„Die Menschen mochten die St Paul's Cathedral nicht. Sie waren gegen den Eiffelturm. Weder die Oper in Sydney noch das Centre Pompidou gefielen ihnen. Aber heute werden Millionen von Fotos dieser Gebäude per Email und Handy um die Welt geschickt.“ (Jan Kaplicky, Future Systems)

Das Royal Institute of British Architects (RIBA) hat seine frisch rennovierten Räume mit der Ausstellung „The Brits who Built the Modern World“ (Ausstellungsposter) eingeweiht

London | Aktuelles

Das Royal Institute of British Architects (RIBA) hat seine frisch rennovierten Räume mit der Ausstellung „The Brits who Built the Modern World“ (Ausstellungsposter) eingeweiht

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London ist nicht nur die Hauptstadt von Grossbritannien, sondern auch die grösste Stadt in Europa und eines der stärksten Wirtschaftszentren weltweit, das jährlich mehr als 30 Millionen Besucher anzieht (2008). Es besteht kein Zweifel, dass viele von ihnen die Tate Modern (Herzog & de Meuron) besuchen – einige passieren dabei die Themse wahrscheinlich über die Millennium Brücke (Foster + Partners).

In Anbetracht der vielen erstklassigen Touristenattraktionen mit denen London aufwartet, fragt man sich, ob die Besucher London als zukunftsorientierte Stadt im Gedächtnis behalten oder ob sie es eher mit dem Glanz vergangener Tage – mit Queen Victoria und viktorianischen Gebäuden oder Harrods und Selfridges – in Verbindung bringen. Sie könnten mit ein bisschen Ironie zum Schluss kommen, dass sie dank der intelligenten und weitsichtigen Förderung von Architektur vor 150 Jahren, eine wunderbare Zeit in der Stadt verbringen. Ob ihre Enkelkinder diese auch noch besuchen wollen werden, wird sich, betrachtet man die neueren Bauten, erst erweisen müssen.

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Parallel zur Ausstellung strahlte die BBC als Teil ihrer „Nation Builders“ Reihe einen dreiteiligen Dokumentarfilm mit dem Titel „The Brits who Built the Modern World“ aus

Mit ihrer Serie „The Brits who Built the Modern World“ im Februar dieses Jahres wollte die BBC wohl eher unterhalten als in die Tiefe gehen. Weil sie die fünf Londoner Architekturbüros Farrells, Foster + Partners, Grimshaw, Hopkins und Rogers Stirk Harbour + Partners, deren Wurzeln eng mit dem verbunden sind, was als hightech (ursprünglich war Terry Farrell Nicholas Grimshaws Partner) bezeichnet wurde, ins Zentrum stellte, war die Botschaft der Sendung: Fliegen Sie nach Paris (Centre Pompidou: Renzo Piano and Richard Rogers), wenn Sie eine kulturelle Institution des 21. Jahrhunderts erleben wollen oder nach Hongkong, um einen der am intelligentesten konzipierten Wolkenkratzer (HSBC: Foster + Partners) zu bewundern. Kommen Sie nach Cornwall, um Regenwald, Ökologie und Nachhaltigkeit zu erleben (Eden Project: Grimshaw) oder nach Berlin (Reichstag: Foster + Partners) oder vielleicht zum Senedd in Cardiff (Rogers Stirk Harbour + Partners), wenn Sie hervorragende, vom Staat in Auftrag gegebene Gebäude bestaunen wollen. Aber London?

Londons moderne Tradition aus dem 20. Jahrhundert ist ein gut versteckter Schatz. Der Penguin Pool im Londoner Zoo (Lubetkin / TECTON), das Isokon Gebäude und 10 Palace Gate (Wells Coates) oder das letzte der erhaltenen Joseph Interieurs (Eva Jiricna) sind alle Juwelen, die sich dem Besucher nicht direkt erschliessen, dem Kenner hingegen bekannt sind.

London hat die grösste Dichte an exzellenten Architekturbüros weltweit. Egal ob sie für Lloyd’s (Rogers), Swiss Re (Foster), Rothschild (Koolhaas) oder die London Olympics (Zaha Hadid, Michael Hopkins) bauen, so bürgt die Stadt für erstklassige Architekten. Aber es gibt auch eine andere Seite dieser Medaille, wie zum Beispiel das Dockland Projekt und das Chaos, das Teil seiner Neugestaltung war.

Wenn das (im Hintergrund) eine Gurke („gherkin“) ist, dann sieht das Gebäude im Vordergrund wie eine Käsereibe („cheesegrater“) aus, auch wenn Richard Rogers diese Bezeichnung für das Leadenhall Building missfällt

London | Aktuelles

Wenn das (im Hintergrund) eine Gurke („gherkin“) ist, dann sieht das Gebäude im Vordergrund wie eine Käsereibe („cheesegrater“) aus, auch wenn Richard Rogers diese Bezeichnung für das Leadenhall Building missfällt

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Heute scheint sich alles um Erfolg und Export zu drehen. Die Banken, die Wirtschaft und die Regierung, sie alle lieben Erfolgsgeschichten. Aus diesem Grund lesen sie gerne, dass schätzungsweise 75 Prozent (höchstwahrscheinlich 90 Prozent) der Projekte dieser Architekturbüros weltweit realisiert werden und somit die Massstäbe in London gesetzt werden. Wenn Politiker die Arbeiten von Architekten loben, sollten wir im Hinterkopf behalten, dass etwa 20 000 Menschen in London für diese Büros oder für Ingenieure und Spezialisten, wie beispielsweise Modellbauer arbeiten. Es gibt jedoch wenig Hinweise, dass die Entscheidungsträger einen bestimmten Stil oder ein Büro bevorzugen. Einzige Ausnahme von der Regel war Ken Livingstone, der Richard Rogers als seinen Berater in Sachen Architektur und Städteplanung einsetzte.

Foto: Anthony Palmer, ODA

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Foto: Anthony Palmer, ODA

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Eines der bedeutendsten Gebäude der Olympischen Spiele 2012 ist das Velodrome von Hopkins Architects; Foto: Nathaniel Moore

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Eines der bedeutendsten Gebäude der Olympischen Spiele 2012 ist das Velodrome von Hopkins Architects; Foto: Nathaniel Moore

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Während Vanbrugh, Hawskmoor und Wren zu ihren Zeiten von direkter Patronage (des Adels oder der Kirche) profitierten, sind ein Grossteil heutiger Förderer Immobilienfirmen oder Immobilienfonds und bleiben überwiegend anonym. Da es keinen Hinweis gibt, dass die Entscheidungsträger in diesen Firmen von einem anderen Kriterium als Geld geleitet werden, um architektonische Qualität zu beurteilen, besteht wenig Hoffnung. Ausserdem sollte angemerkt werden, dass "Gherkin" (Foster + Partners), "Shard" (Renzo Piano Building Workshop) und "Cheesegrater" (Rogers Stirk Harbour + Partners) eine Medienpräsenz zuteil wird, weil sie aus dem Durcheinander, das sonst gebaut wird, hervorstechen. Das könnte ein Masstab sein, um zwischen Bauen und Architektur zu unterscheiden und vielleicht werden attraktive Arbeitsplätze manche Menschen (Bankster und Versicherungsganster) überzeugen helfen, dass gute Gebäude der Öffentlichkeit mehr zu bieten haben als nur schöne Fassaden.

Laut verschiedener Quellen fehlen in London seit Jahren ungefähr 125 000 Wohnungen, die dringend notwendig wären, um Druck von der „globalisiertesten Stadt überhaupt“ (McKinsey, 2007) zu nehmen. „London verhält sich wie Paris zur Art Nouveau und New York zu Jazz, seine Stärke liegt in seiner Rolle als Schmelztiegel. Ideen und Erfindungen mögen an anderen Orten entstehen, aber sie kommen zuerst nach London, bevor sie die Welt erreichen. Das ist Londons grösster Vorzug und die Geschichte hat gezeigt, dass es auch der beständigste ist.” Diese Passage stammt aus einem Report („London – A Cultural Audit”, London Development Agency, 2008), der von Ken Livingstone, dem damaligen Bürgermeister von London, in Auftrag gegeben wurde. Die Schlussfolgerung des Reports lautet, dass Londons kulturelles Angebot niemals als selbstverständlich vorausgesetzt werden sollte. Lag das daran, dass sich der Bürgermeister über die Schwäche des Privatsektors im Klaren war? Er musste gewusst haben, dass der öffentliche Sektor das Risiko nicht abfangen kann.

Der Orbit, den Anish Kapoor in Zusammenarbeit mit dem Ingenieur Cecil Balmond (Arup AGU) konzipierte; Fotos: © 2014 Anish Kapoor

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Der Orbit, den Anish Kapoor in Zusammenarbeit mit dem Ingenieur Cecil Balmond (Arup AGU) konzipierte; Fotos: © 2014 Anish Kapoor

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Es gibt kein einfaches „Ja” oder „Nein” auf die Frage, ob London die Gebäude erhält, die es verdient. Besucher der Stadt würden höchstwahrscheinlich mit einem „Ja” antworten, diejenigen, die Stunden damit zubringen, hin und her zu pendeln eher mit einem „Nein”. Um einen Vergleich aus dem Fussball zu bemühen: London steht im gleichen Verhältnis zur Architektur wie die Premier League zur FIFA WM – Sie ist die attraktivste Liga, die Unmengen an Geld in ihre Vereine steckt. Auf der anderen Seite müssen steigende Eintrittspreise für die ursprünglich aus der Arbeiterschicht stammenden Massen, die die Stadien füllen, erschwinglich bleiben. Von diesem Blickwinkel aus stehen die heutigen Publikumsmassen auch für einen Marketingwandel. Besserverdienende anzusprechen schien die perfekte Lösung zu sein.

Im Jahr 2014 bietet London seinen Besuchern einen Gherkin, einen Shard und einen Cheesegrater. Es hat ein Aquatics Centre (Zaha Hadid) und ein Velodrome (Hopkins) und – als hätte King Kong einen Trip nach London gewagt – einen Orbit (Anish Kapoor), der so aussieht, als hätte King Kong eine Achterbahn zu einer Skulptur verformt. Neben den bekannten Touristenattraktionen wie der Tate Modern bietet London die besten Büros und baut somit seine Position als „top business centre” (Ken Livingstone) weiter aus. Eine Antwort auf die Frage, wie die zentrifugalen Kräfte der Globalisierung (Tourismus, Top Jobs, Luxusappartements) ausgeglichen werden können, also wie mit den Verlust von Arbeitsplätzen umgegangen werden soll, wenn nur Zweidrittel der arbeitenden Bevölkerung Jobs finden, bietet es allerdings nicht.

Zeitgenössischer Wohnungsbau? Ein rares Beispiel: NEO Bankside, 217 Wohneinheiten von Rogers Stirk Harbour + Partners; Fotos: Edmund Sumner/RSHP

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Zeitgenössischer Wohnungsbau? Ein rares Beispiel: NEO Bankside, 217 Wohneinheiten von Rogers Stirk Harbour + Partners; Fotos: Edmund Sumner/RSHP

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Vor einigen Jahrhunderten schrieb Shakespeare über Venedig, Verona, Rom und Athen als seien sie Nachbardörfer. Die gleiche Vorstellung dominiert das Bild vom Traumhaus eines Durchschnitt-Londoners: „Doppelhaushälfte, Vorstadt”, wie Manfred Mann einst gesungen hat. Die Realität sieht anders aus, denn heute sind viel intelligentere Formen der „Verdichtung“ gefragt, um Rem Koolhaas zu zitieren oder Richard Rogers, der in „Cities for a Small Country“ konstatiert, dass wir gezwungen sein werden, auf engerem Raum zusammenzuleben, um der Verschwendung Einhalt zu gebieten. Während die Popularität von einst kritisch beäugten Gebäuden, wie beispielsweise dem Balfron Tower, dem Barbican oder Bevin Court, als ein Zeichen der sich wandelnden Wahrnehmung gedeutet werden könnte, sind sie mittlerweile viel zu teuer, als dass sie kostengünstige Alternativen bieten könnten. Dennoch wäre es unfair die Schuld, die ihren Ursprung offensichtlich in ökonomischen, politischen und sozialen Vorlieben hat, bei den Architekten zu suchen.

Einige dieser „Brits who Build the Modern World“ haben sogar Potentiale ohne Auftraggeber aufgezeigt (Rogers Stirk Harbour + Partners, Homeshell/Insulshell and Y:Cube) oder versucht eigene Wege zu beschreiten (Grimshaw: Park Road Apartment Building; Foster: Riverside Apartments).

PS Genau genommen ist das eingangs verwendete Zitat von Jan Kaplicky nicht ganz korrekt. Als er seinen Gedanken formulierte, wurden Fotografien noch nicht per Computer oder Handy versendet. Das waren die glorreichen Tage der Postkarten.

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