(Article available in German only) Die Architektur in São Paulo befindet sich in einem komplexen Spannungsfeld, welches durch das exponentielle Wachstum und das enorme Tempo seiner ständigen Verwandlung geprägt ist. Das daraus resultierende Nebeneinander von Ungleichem mag zwar ein Hindernis zur nachhaltigen Entwicklung sein, kann sich beim Entwerfen aber als mächtiges Potenzial entpuppen. Eine Betrachtung der lokalen Architekturszene zeigt urbane Qualitäten, die junge Büros aus São Paulo mit ihren vielseitigen Projekte schaffen.

Foto: Bärbel Högner

São Paulo: Entwerfen in einer Stadt der Gegensätze (Teil I) | News

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São Paulo präsentiert sich heute als chaotischer Gigant. Gegensätze prägen ihn. Beim Anblick der grauen Megacity fällt es schwer, sich das bis Mitte des 19. Jahrhunderts relativ unbedeutende Vila de São Paulo vorzustellen. Um die Jahrhundertwende sorgte die boomende Kaffeeindustrie für eine dynamische Entwicklung. Überschüssiges Kapital konnte in eine aufkommende Industrialisierung und den Ausbau der Infrastruktur investiert werden. Nach Abschaffung der Sklaverei initiierte der Staat eine gezielte Immigrationspolitik, um den Bedarf an Arbeitskräften zu decken. Für Einwanderer aus Südeuropa, dem nahen Osten und Japan bot die Stadt ideale Bedingungen, was zu einem multiethnischen Sozialgefüge führte. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich São Paulo zum grössten industriellen Ballungsraum in Lateinamerika und agiert seither weltweit als bedeutendes Finanz- und Handelszentrum. Zeitgleich wuchs auch die Bevölkerung. Die Metropolitanregion São Paulo verfügt heute über eine stolze Einwohnerzahl von mehr als 20 Millionen, womit sie die viertgrösste urbane Agglomeration der Erde darstellt.

Gefährlicher Dualismus

Die Schattenseiten des Fortschritts bestehen in der wachsenden Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich. Seit der Kolonialzeit hat die soziale Ungleichheit stetig zugenommen. Die Stadtplanung in der Zeit des Militärregimes (1964 bis 1985) trug entscheidend zu dieser Entwicklung bei, denn mit öffentlichen Wohnbauprogrammen wurden an der Peripherie ausschliesslich dem Wohnen vorbehaltene Siedlungen geschaffen, die zu Ghettos verkamen. Somit war der Grundstein für eine städtische Ordnung gelegt, welche die soziale Segregation und die Zerstückelung des Stadtgebiets fördern sollte. Urbanisierungsmassnahmen kamen vor allem den Reichen zugute. Bis heute ist der Zugang benachteiligter Bevölkerungsschichten zur Infrastruktur eine prekäre Angelegenheit.

Die vielen Paradoxien lassen sich an der gebauten Stadt ablesen: Zwischen der wachsenden Hochhauswüste treten informell gewachsene, kleinräumige Favelas und irreguläre Siedlungen auf, die meist illegal angelegt sind und sich den städtischen Raum da aneignen, wo sie ihn finden können. Die Wohnungsnot bleibt ein ungelöstes Problem, welches heute vor allem durch die Inlandimmigration verschärft wird. Die Angst vor Gewalt im öffentlichen Raum begünstigte in den 1990er-Jahren eine steigende Privatisierung. Dies führte zu einem starken Wertverlust des öffentlichen Raums. Immer mehr wurden Erholung, Freizeit und Konsum in den privaten Raum verlegt. Wer es sich leisten konnte, schottete sich in inselartigen «Gated Communities» ab, die rund um die Uhr von Sicherheitskräften überwacht werden. Das Flanieren kommt durch die vielen Mauern an einigen Stellen einem Labyrinth gleich und ist der Grund, weshalb São Paulo auch als «City of Walls» beschrieben wurde.

In der Vila Romana sind die Parallelen zu den Entwürfen von Mendes da Rocha gut erkennbar. Die Escola Paulista inspiriert MMBB mit ihrer radikalen Gestaltung noch heute. Das 2006 erbaute Gebäude bringt die Konstruktionsweise unverfälscht zum Ausdruck

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In der Vila Romana sind die Parallelen zu den Entwürfen von Mendes da Rocha gut erkennbar. Die Escola Paulista inspiriert MMBB mit ihrer radikalen Gestaltung noch heute. Das 2006 erbaute Gebäude bringt die Konstruktionsweise unverfälscht zum Ausdruck

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Architektur als Gegenpol

Die aufgeladene Situation der Megacity hat auch starke Auswirkungen auf die lokale Architekturszene. Die nach São Paulo benannte «Escola Paulista» – ein Terminus, der auf die stilistische Differenz zu Rio de Janeiros «Escola Carioca» anspielt – reagierte auf das politische und soziale Bild der Stadt. Die Architekturströmung artikulierte eine stark gesellschaftspolitische Haltung, die sich vor allem in räumlicher Offenheit und allgemein zugänglichen Gemeinschaftsräumen manifestierte. Die Architekten João Batista Vilanova Artigas (1915–1985) und sein ehemaliger Assistent Paulo Mendes da Rocha (geboren 1928) gelten als Vorreiter dieser Bewegung. Ihr Schaffen rückte während des Militärregimes auf die Seite des Widerstandes. Die «Escola Paulista» kann als Entwicklung gelesen werden, die bis zur heutigen Bauproduktion anhält und den Architekten der Stadt eine politische Haltung und soziale Verantwortung vermittelt.

Innovation und Potenzial

Das gebaute Werk von Mendes da Rocha und Artigas spielt heute für eine Gruppe junger Architekten in São Paulo eine wesentliche Rolle. Es ist ein schwieriges, aber reichhaltiges Erbe, das man gerne weiterträgt. Der kürzlich in Venedig für sein Lebenswerk ausgezeichnete Paulo Mendes da Rocha wird oft als Vorbild gesehen und arbeitet immer noch aktiv mit jungen Architekten zusammen. Seine
Überlegungen zur räumlichen Offenheit und zur Architektur als Kommunikation dienen heute als wichtige Referenz. Weil in São Paulo viele global gültige städtische Probleme anzutreffen sind, erweisen sich lösungsorientierte Architekturbeispiele auch im internationalen Kontext als besonders bedeutend. Die komplexen Ansprüche an die Architektur führen zu sehr vielseitigen und kreativen Entwürfen. Es herrscht Aufbruchstimmung. Exemplarisch stellt Modulør zeitgenössische Architekturbüros vor, die auf die gespaltene Gesellschaftsstruktur reagieren und auf lokaler Ebene wirken.

Im 2013 fertiggestellten Wohnungsbau «Jardim Edite» sind die sozialen Bestrebungen des Büros ablesbar. Die 25 500 m² bieten Platz für 525 Wohneinheiten, verschiedene Gesundheitseinrichtungen und eine Schule

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Im 2013 fertiggestellten Wohnungsbau «Jardim Edite» sind die sozialen Bestrebungen des Büros ablesbar. Die 25 500 m² bieten Platz für 525 Wohneinheiten, verschiedene Gesundheitseinrichtungen und eine Schule

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MMBB entstand 1991 aus einer Zusammenarbeit der Architekten Fernando de Mello Franco, Marta Moreira und Milton Braga. Ihre Arbeit charakterisiert sich von jeher stark durch die Kollaboration mit anderen Planern, insbesondere mit Ingenieuren, weshalb in ihrem Portfolio auch viele Infrastrukturprojekte zu finden sind. Ausserdem erarbeitet das Büro seit 1995 immer wieder gemeinsame Projekte mit der Architekturikone Paulo Mendes da Rocha. Weil in São Paulo die Ressourcen für die Lösung der urbanen Probleme zu knapp sind, versuchen MMBB mit jeweils kleinem Budget die bestmögliche Balance zwischen einschlägigen Lösungen und Hochleistungsarchitektur zu finden. Dafür konzentrieren sie sich im Entwurfsprozess auf denjenigen Aspekt der Gesamtlösung, der die besten Auswirkungen auf jedes mögliche Szenario hat. Einer ihrer Grundgedanken beim Entwerfen ist es auch, positive Überraschungen für die Benutzer und die Beobachter zu schaffen. Auf die Frage nach der Verantwortung der Architekten gegenüber der Stadt antwortet Gründungsmitglied Milton Braga: «Für uns ist es klar, dass der architektonische Entwurf Konflikte lösen kann, die unlösbar scheinen. Nehmen wir beispielsweise die Sackgasse, die entsteht, wenn man auf einer Fläche sowohl einen Park als auch einen sozialen Wohnungsbau erstellen möchte. Beide sind notwendig und werden andere Antworten auf verschiedene Interessen geben. Ein gutes Projekt kann beide Ansprüche befriedigen und führt meist sogar dazu, dass sich die beiden Nutzungen gegenseitig bereichern.» Zur architektonischen Praxis führt er weiter aus: «Die Schlichtung verschiedener Interessen ist die beste Möglichkeit, um der Verantwortung des Architekten nachzukommen, die Stadt für alle zu bauen. Das heisst die Stadt, in der idealerweise das Leben jedes Menschen profitiert und verbessert wird. Wenn Architekten dieses Engagement haben, sind sie politische Architekten. Wir haben dies.» MMBB versucht deshalb, im städtischen Massstab ökonomische und soziale Werte mit privaten und öffentlichen Partnern zu schaffen.

Der Gebäudekomplex baute MMBB zusammen mit den Architekten Eduardo Ferroni und Pablo Hereñú (H+F) und gewann damit mehrere Auszeichnungen

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Der Gebäudekomplex baute MMBB zusammen mit den Architekten Eduardo Ferroni und Pablo Hereñú (H+F) und gewann damit mehrere Auszeichnungen

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Text: Caroline Tanner
Bilder: © Nelson Kon

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