Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Das trifft sicherlich nur teilweise auf Tobia Scarpa, den Sohn des renommierten Architekten Carlo Scarpa zu, denn der innovative Designer, der im nächsten Jahr achtzig wird, war trotz seiner architektonischen Vorprägung von Anfang an bemüht, eigene Wege zu beschreiten. Sein Schaffen umfasst bahnbrechende Möbel- und Lampendesigns, die an die Grenzen des technisch und materiell Machbaren stossen. Architonic hat Herrn Scarpa Junior im Cassina Showroom an der diesjährigen imm cologne getroffen, um mit ihm über Kreativität, Familie und über Alvar Aaltos Tische zu sprechen.

„Mir gefällt nach wie vor alles, was ich entworfen habe während ich an meine Grenzen gestossen bin.“ Architekt und Designer Tobia Scarpa lässt seine Karriere anlässlich seines achtzigsten Geburtstags Revue passieren

Auf eigenen Wegen: Tobia Scarpa | Aktuelles

„Mir gefällt nach wie vor alles, was ich entworfen habe während ich an meine Grenzen gestossen bin.“ Architekt und Designer Tobia Scarpa lässt seine Karriere anlässlich seines achtzigsten Geburtstags Revue passieren

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„Wie der Vater, so der Sohn“, lautet das alte Sprichwort.

Auf den bald achtzigjährigen italienischen Architekten und Designer Tobia Scarpa, den Sohn des namhaften venezianischen Architekten, der in seiner Heimatstadt Projekte wie die Fondazione Querini Stampalia und den dazugehörigen Olivetti Showroom und in San Vito d’Altivole die Grabanlage Brion realisiert hat, trifft das nicht unbedingt zu. Der kreative Werdegang des Sohns war in den letzten sechs Jahrzehnten von einem tiefen Wunsch, wenn nicht sogar einem Bedürfnis, geprägt, sich vom Vater und dessen Ruf eines Architekturgenies abzugrenzen.

Tobia Scarpa spricht im Rahmen einer Panel-Diskussion im Cassina Showroom während der imm cologne 2014 über das goldene Zeitalter des italienischen Designs. Rechts von ihm: Florian Löhle, der für Nordeuropa zuständige Manager von Cassina

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Tobia Scarpa spricht im Rahmen einer Panel-Diskussion im Cassina Showroom während der imm cologne 2014 über das goldene Zeitalter des italienischen Designs. Rechts von ihm: Florian Löhle, der für Nordeuropa zuständige Manager von Cassina

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„Ich wollte nicht mit ihm in einen Wettkampf treten“, erwähnt er recht offen gleich zu Beginn unseres Interviews. Deshalb konzentrierte sich der junge Tobia nach seinem Architekturstudium auf Möbel- und Produktdesign. „Ich war der Überzeugung, dass mein Vater der Architekt ist“, fügt er hinzu.

Im Cassina Showroom während der im Januar stattfindenden Möbelmesse in Köln bot sich die Gelegenheit zum Gespräch. Hier diskutierten Scarpa, Professor Axel Kufus von der Universität der Künste Berlin und die Chefredakteurin von Elle Decoration Deutschland, Christine Bürg, den Beginn italienischen Designs. Der ökonomische Hintergrund des Events ist Cassinas kürzliche Übernahme der Kultmarke SimonCollezione (die 1968 von Dino Gavina gegründet wurde). In diesem Zusammenhang gingen auch viele Designklassiker von Marcel Breuer, Kazuhide Takahama, Meret Oppenheimer und Man Ray sowie von beiden Scarpas, Carlo und Tobia, an Cassina über.

Cassinas Übernahme der Kultmarke SimonCollezion beinhaltete Klassiker von Marcel Breuer und Kazuhide Takahama sowie von beiden Scarpas, Carlo und Tobia. Hier zu sehen Carlo Scarpas Tische „Doge“ (oben) und „Florian“ (unten)

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Cassinas Übernahme der Kultmarke SimonCollezion beinhaltete Klassiker von Marcel Breuer und Kazuhide Takahama sowie von beiden Scarpas, Carlo und Tobia. Hier zu sehen Carlo Scarpas Tische „Doge“ (oben) und „Florian“ (unten)

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Familien sind komplexe Angelegenheiten, soviel wissen wir. Tobia Scarpas bewusste Entscheidung, einen anderen Weg als sein Vater einzuschlagen, heisst nicht im Geringsten, dass er dessen Werk nicht schätzt. Ganz im Gegenteil: In Köln spricht er fundiert und mit Stolz über Scarpa Seniors architektonisch anmutende Tische für SimonCollezione. Was die Bezeichnung „Architekt“ anbelangt, weist er allerdings schnell auf sein Unbehagen hin. Sich selbst sieht er vor allem als Designer.

„Die Wahrheit ist, dass ich Designer wurde, um meinem Vater nicht in die Quere zu kommen“, sagt Tobia Scarpa, der Sohn des bekannten venezianischen Architekten Carlo Scarpa, der hier zu sehen ist

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„Die Wahrheit ist, dass ich Designer wurde, um meinem Vater nicht in die Quere zu kommen“, sagt Tobia Scarpa, der Sohn des bekannten venezianischen Architekten Carlo Scarpa, der hier zu sehen ist

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Detail von Carlo Scarpas „Orseolo“-Tisch für SimonCollezione, die jetzt Teil von Cassina ist

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Detail von Carlo Scarpas „Orseolo“-Tisch für SimonCollezione, die jetzt Teil von Cassina ist

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Seine Arbeiten für einige der bedeutendsten Hersteller in der italienischen Designlandschaft, wie B&B Italia, Flos und natürlich Cassina, die oft in enger Zusammenarbeit mit seiner Frau Afra entstehen, lassen daran keinen Zweifel. Antriebsfeder für Tobia Scarpas Schaffen ist das Streben nach Innovation. Dabei geht er bis an die Grenzen des materiell und technisch Machbaren und an die des eigenen Könnens. Deshalb entstanden Arbeiten wie das „Coronado”-Sofa von 1966 und eine aufgrund ihrer Konstruktion wegweisende Sessel-Serie für B&B Italia, die aus einem Marmorblock gefertigte und für Flos entworfene „Biagio”-Lampe von 1968 sowie der von Cassina produzierte und 1968 lancierte rahmenlose Polstersessel „Ciprea”. (Die ersten beiden Stücke werden immer noch hergestellt.)

Tobia Scarpas 1968 lancierte „Biagio“-Lampe für Flos, die aus einem Marmorblock gehauen ist

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Tobia Scarpas 1968 lancierte „Biagio“-Lampe für Flos, die aus einem Marmorblock gehauen ist

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In einiger Hinsicht war Scarpa schon immer seiner Zeit voraus, dafür sprechen seine Experimentierfreudigkeit. Seine Möbel und Lampen verdeutlichen sein konstant an der Forschung orientiertes Denken. Nicht genau zu wissen, wie etwas zu tun ist, stellte niemals ein Hindernis dar. Dieser progressive Ansatz war, wie Scarpa im Gespräch erwähnt, so manches Mal für die Hersteller, mit denen er zusammenarbeitete, frustrierend. Aber wo würden wir heute stehen, wenn es nicht Designer gäbe, die eine über den Status quo hinausreichende materielle Welt imaginieren? Tobia Scarpa wir grüssen Sie!

Der wegweisende „Coronado“-Stuhl aus dem Jahr 1966 für B&B Italia. „Bevor ich auf diese Idee kam, dauerte es drei Stunden den Sessel zu bauen, danach nur noch 15 Minuten“, sagt Tobia Scarpa

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Der wegweisende „Coronado“-Stuhl aus dem Jahr 1966 für B&B Italia. „Bevor ich auf diese Idee kam, dauerte es drei Stunden den Sessel zu bauen, danach nur noch 15 Minuten“, sagt Tobia Scarpa

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Am Anfang der heutigen Diskussion im Cassina Showroom in Köln haben Sie sich als „lediglich einen alten Mann“ bezeichnet, aber in Wirklichkeit ist Ihr Designwerk ein sehr bedeutendes. Wie stehen Sie zu Ihren Arbeiten in Anbetracht Ihres anstehenden 80. Geburtstags?

Also, ich mag meine Arbeiten. Aber die Wahrheit ist, dass ich Designer wurde, weil ich meinem Vater Carlo Scarpa nicht in die Quere kommen wollte. Ich hielt es für unangemessen als junger Architekt aufzutauchen und die gleiche Arbeit wie mein Vater zu machen. Ich war der Überzeugung, dass mein Vater der Architekt sei und ich wollte nicht mit ihm in einen Wettkampf treten.

Am Ende des Tages besteht kein grosser Unterschied zwischen einem Haus, das gebaut wird und einem Haus, das bewohnt wird. Aber ich denke, dass es zwei unterschiedliche Dinge sind, ein Haus zu bauen und das Mobiliar zu entwerfen. Darüber hinaus gibt es in Italien ein Gesetz, das verbietet, dass Leute ohne architektonische Ausbildung Häuser planen, wohingegen jeder Möbel oder andere Objekte entwerfen kann.

Tobia Scarpas stapelbarer „Boomerang“-Stuhl für Meritalia

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Tobia Scarpas stapelbarer „Boomerang“-Stuhl für Meritalia

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Denken Sie, dass Ihre Ausbildung zum Architekten Ihre Arbeit als Designer direkt beeinflusst hat?

Ich habe nie wirklich darüber nachgedacht. Ich glaube nicht, dass es einen Unterschied zwischen diesen beiden Dingen gibt. Ich glaube noch nicht einmal, dass ein Unterschied zwischen der Planung eines Raumschiffs und der eines Hauses besteht. Es gibt Leute, die bevorzugen die eine und es gibt Leute, die bevorzugen die andere Sache. Ich versuchte zum Beispiel Segelboote zu entwerfen, nur um zu sehen, was passiert und um rauszufinden, was sich ohne Hintergrundwissen realisieren lässt. Mein erstes Projekt begann ich ohne Vorstudien oder Berechnungen, aber griff definitiv auf technische Mittel zurück – wir verwendeten Materialien, die noch nicht auf dem Markt waren. Damit gewann ich nicht die Weltmeisterschaft, aber es war nicht schlecht.

Alle ihre Arbeiten sind durch einen progressiven und innovativen Ansatz geprägt. Denken Sie, in Anbetracht der Tatsache, dass Sie mit so vielen der renommiertesten Herstellern der italienischen Designgeschichte zusammengearbeitet haben, dass das Design in den 1960er und 70er-Jahren progressiver als das heutige war? War es hinsichtlich des Wunsches, das Leben der Menschen zu verändern, ambitionierter?

Also die Hersteller waren damals ein bisschen ignorant. Sie wussten wirklich gar nichts. Sie wussten noch nicht mal, wie sie Ihren eigenen Beruf ausführen sollten.

Tobia Scarpas „Foglio“-Lampe von 1966 erzeugt durch ihre geschwungenen, pulverbeschichteten Flügel Streulicht

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Tobia Scarpas „Foglio“-Lampe von 1966 erzeugt durch ihre geschwungenen, pulverbeschichteten Flügel Streulicht

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Heisst das, dass es damals mehr Freiheiten gab? Gab es ein tieferes Vertrauen in den Designer?

Absolut. Genau deshalb, weil Sie nicht verstanden, was wir taten. Das gab uns so viel mehr Freiheiten. Einmal entwarf ich einen Sessel, den ich „Coronado“ nannte, und entwickelte die Technik selbst: Das ganze Gestell wurde nur von zwei Schrauben zusammengehalten. Es wurde zunächst von C&B und dann B&B hergestellt. Bevor ich auf diese Idee kam, dauerte es drei Stunden den Sessel zu bauen, danach nur noch 15 Minuten. Am Ende entschieden sie sich jedoch Modetrends zu folgen, was auch immer Mode war, und ich wurde enttäuscht zurückgelassen.

Was die Stühle und Sessel anbelangt, war ich sehr bemüht industrielle Herstellung voranzutreiben. Bei den Lampen war das schwieriger, weil es technische Probleme gab, die ich nicht kontrollieren konnte. Ich konnte ja nicht alles ändern. Aber ich entwarf beispielsweise ein Bett, das auf einer flexiblen Schicht basierte. Der Markt wurde damals allerdings von Latten-Erzeugern bestimmt und deshalb wurde es nicht produziert. Aus diesem Grund wurde es ein Nischen- und kein im grossen Umfang verkauftes Produkt.

Das Problem bestand damals darin, dass ein Produkt seinen Weg selbst finden musste: keine Werbung, keine vertriebliche Unterstützung, absolut gar nichts. Und das ist heute anders. Zum Beispiel hier bei Cassina erkennt man deutlich den Wunsch für die Produkte zu werben.

Tobia Scarpas „Bia“-Stuhl für Meritalia mit seinem einteiligen Bezug

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Tobia Scarpas „Bia“-Stuhl für Meritalia mit seinem einteiligen Bezug

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Wo steht das italienischen Design heute? Kann man soweit gehen zu sage, dass es seinen Zenit bereits überschritten hat?

Mir bereitet es Vergnügen Dinge zu entdecken, die mich dazu inspirieren neue Objekte zu entwerfen. Das Objekt ist, denke ich, ein Geschenk, das die Intelligenz des Anderen, die andere Person, honoriert. Die Person, die es erhält, wird von ihm berührt. Und die Technik, die ihm zugrunde liegt, ist mein Verdienst, meine Leistung.

Gibt es ein Designobjekt, das Sie gerne an der Stelle eines anderen Designers entworfen hätten?

Ja, jemanden der eine meiner Ideen stiehlt! Nein im Ernst, die Tische von Alvar Aalto mochte ich wirklich sehr. Nur als ich sie dann kaufte und sah, wie sie hergestellt sind, war ich nicht mehr ganz so überzeugt. Grundsätzlich bin ich zufrieden mit meiner Arbeit. Mir gefällt nach wie vor alles, was ich entworfen habe während ich an meine Grenzen gestossen bin.

Tobia Scarpa: „Mir bereitet es Vergnügen Dinge zu entdecken, die mich dazu inspirieren neue Objekte zu entwerfen. Das Objekt ist ein Geschenk, das die Intelligenz des Anderen honoriert.“

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Tobia Scarpa: „Mir bereitet es Vergnügen Dinge zu entdecken, die mich dazu inspirieren neue Objekte zu entwerfen. Das Objekt ist ein Geschenk, das die Intelligenz des Anderen honoriert.“

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Ihr Familiennetzwerk, Ihr Vater, ein anerkannter Architekt, und Ihre Frau, auch eine talentierte Architektin und Designerin... Wie wichtig sind enge Beziehungen mit anderen kreativen Personen und wie beeinflussen sie Ihre eigene Kreativität?

Sie sind wichtig, denke ich. Aber ich bin nicht so eine Person. Ich arbeite alleine. Ich bin recht ungesellig. (Lacht)

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