Eines der vielen Zeichen, dass man zu den Grandseigneurs der Architektur gezählt wird, ist wohl eine Retrospektive im Centre Pompidou in Paris. Architonic nimmt die aktuelle Bernard Tschumi Werkschau zum Anlass einen Blick auf die verschiedenen Projekte des Schweizer Architekten zu werfen.

2010 fertiggestellt, Bernard Tschumis Brücke in La Roche-sur-Yon, Frankeich, verbindet den historischen Stadtkern mit neuen Wohnvierteln

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2010 fertiggestellt, Bernard Tschumis Brücke in La Roche-sur-Yon, Frankeich, verbindet den historischen Stadtkern mit neuen Wohnvierteln

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Jean Nouvel, Richard Rogers (der Architekt des Centre Beaubourg, der als Alt-Linker nie den offiziellen Namen verwenden würde!) und ein paar andere hatten sie schon: ihre Einzelausstellung im Centre Pompidou. Und jetzt also der 1944 in Lausanne geborene Bernard Tschumi, den es nach seinem Architekturstudium an der ETH ins Zentrum der fachlichen Auseinandersetzung zog. Als Lehrer an der Londoner Architectural Association, war für ihn dennoch stets New York das grosse Ziel, wo er seit 1976 lebt, um allwöchentlich in sein zweites Büro nach Paris zu pendeln. Die Ausstellung zeigt die Bedeutung, die Tschumi auf der Weltbühne der Architektur beigemessen wird.

Die Bernard Tschumi Retrospektive im Centre Pompidou in Paris

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Die Bernard Tschumi Retrospektive im Centre Pompidou in Paris

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Architektur für Giraffen und Elefanten
Für die am 30. April eröffnete Ausstellung wurden auf 1'000 m2 im Erdgeschoß rund 350 Collagen, Skizzen, Zeichnungen und Modelle zusammengetragen; vieles davon ist erstmals zu sehen. Komplettiert wird die vom Architekten selbst konzipierte Installation durch Archivalien und Filmdokumente. Mehr als vierzig Projekte in Europa, den USA, China und im Nahen Osten werden gezeigt. Den Fokus legte der Architekt ganz bewusst auf die Transformation der Idee in architektonische Konzepte, wodurch Einblicke in den Entwurfsprozess ebenso möglich sind wie in die Entstehungsgeschichte einzelner Bauwerke, etwa des Veranstaltungs- und Ausstellungszentrums Zénith in Rouen (1998 – 2001), des Flon in Lausanne und von rund drei Dutzend mehr. Als Neuestes der Pariser Parc Zoologique, dessen Tore im Vorort Vincennes zwei Wochen vor der Retrospektive öffneten.

Das Acropolis Museum in Athen (2001–09; oben) und das Interface Flon in Lausanne, Schweiz (2001; unten)

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Das Acropolis Museum in Athen (2001–09; oben) und das Interface Flon in Lausanne, Schweiz (2001; unten)

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Seit Mitte der 70er Jahre gilt Bernard Tschumi als eine der wichtigsten Kräfte im zeitgenössischen Diskurs. Nicht zuletzt mit oft provokativen Übertragungen, welche die Architektur etwa durch ihr Erlebnis und somit durch Bewegung in Bezug zum Film setzen. All das ist in mehr als zwei Dutzend überwiegend schwergewichtigen Publikationen dokumentiert, die Bezüge von der Philosophie bis zur Werbung herstellen. Zentral sind der Begriff »Event« (Event Cities; MIT Press), den er zuvor selbst durch ein Feuerwerk 1974 in London inszeniert und propagiert hatte, und vielleicht jenes epochale »maintenant«, mit dem sich einst der Philosoph Jacques Derrida (auf Anfrage des Architekten) in den architektonischen Diskurs eingeschaltet hatte. Ein Wort, das sich banal mit »Jetzt« übersetzen ließe und das dabei so wenig von dem bezeichnet, worum des Derrida (und Tschumi) ging. Die Diskussion führte zu Etiketten wie »Dekonstruktion« und »Dekonstruktivismus« und fand ihren Höhepunkt in der von Philip Johnson initiierten Ausstellung »Deconstructivst Architecture« (MoMA 1988).

Der Parc Zoologique in Vincennes, Paris, abgeschlossen 2014

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Der Parc Zoologique in Vincennes, Paris, abgeschlossen 2014

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Nicht alle Bauten von Tschumi waren von Anfang an beliebt. Seine Bushaltestelle im niederländischen Groningen (1990) und der Pariser Parc de la Villette (1982–87) waren umstritten, und in seiner Geburtsstadt Lausanne wurde der Flon (1998–2001) anfänglich höchst kritisch beäugt. Längst wird sein Video-Bus-Stop vor Ort fast schon kultisch verehrt. Der Flon ist beliebt bei Jung und Alt und der Park im Norden der Seine-Metropole ein beliebtes Freizeitzentrum in den umliegenden Wohnquartieren.

Bernard Tschumis Glas-Videogalerie (1990) in Groningen, Niederlanden (oben), und die Zénith Ausstellungs- und Veranstaltungshalle in Rouen, Frankreich (1998–2001)

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Bernard Tschumis Glas-Videogalerie (1990) in Groningen, Niederlanden (oben), und die Zénith Ausstellungs- und Veranstaltungshalle in Rouen, Frankreich (1998–2001)

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»Architektur ist keine Frage der Form, sondern eine Form von Wissen«
In fünf chronologisch und thematisch definierten Sektionen der Ausstellung wird das Licht auf Tschumis Arbeitsansätze geworfen, um die Architekturen zu erklären: beispielsweise mit den – parallel zu Rem Koolhaas’ Kultbuch Delirious New York entstandenen – Manhattan Transcripts (1981) oder dem Zentrum für Gegenwartskunst Le Fresnoy in Tourcoing (1991–97), nahe der nordfranzösischen Stadt Lille. Die Ausstellung basiert auf Bernard Tschumis Arbeit als Architekt, Hochschullehrer und Autor. Sie versucht die Entstehung von Architektur durch Argumente, Ideen, Einflüsse und Reaktionen zeitgenössisch zu definieren. Folglich wird der Besucher – ähnlich wie in einem Themenpark und vorbei an unzähligen Monitoren – durch fünf Installationen geführt, die zentrale Begriffe thematisieren:

• » Concept-Forms«
• »Program and Superposition«
• »Context and Content«
• »Vectors and Envelopes«
• and »Space and Event«

Die letztgenannte Installation ist speziell dem Parc de la Villette gewidmet. Aber auch den anderen lassen sich Projekte ganz konkret zuordnen. So markieren Vektoren Bewegungsverläufe, deren Achsen sich mit den Projekten verändern (wie mit dem Flon in Lausanne oder der Fußgängerbrücke in La-Roche-sur-Yon 2007–10) und Enveloppes stehen für die Verpackung verschiedener Inhalte unter einem Dach (z.B. Vacheron Constantin, Genf 2001–04).

Model des Fresnoy Art Centre (1991–97) in Tourcoing, Frankreich

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Model des Fresnoy Art Centre (1991–97) in Tourcoing, Frankreich

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In seinem Katalogvorwort hält Bernard Blistène, Direktor am Beaubourg (CNAM/CCI), fest: »Given that Bernard Tschumi’s name is famously and indelibly associated with the Parc de la Villette, his first major project in France, it’s surprising that the monographic exhibition at New York’s MoMA in 1994 has had, until now, no European successor. This exhibition at the Centre Pompidou thus offers the different aspects of a career that has included not only the practice of architecture but writing, teaching the theory of architectural education, and the organization of exhibitions, events and conferences, all of which had a profound influence on architectural debate.«

Wie eine miniaturisierte Reverenz an seinen Parc de la Villette erscheinen die 18 würfelförmigen roten Tische in der Galerie. Sie verstärken die bewusst erzählerische Art der Architekturvermittlung noch. Auf ihnen stellt der Architekt zusätzlich Bezüge zu Film, Literatur und allem sonst her, was für ihn zur Erklärung – zum Verständlich machen – von Architektur beitragen kann. Gehe es, wie er stets betont, bei Architektur gar nicht um Form, sondern um eine Form von Wissen.

Rote Tische, die über den Ausstellungsraum im Centre Pompidou verteilt sind, stellen einen Bezug zur Gestaltung des Parc de la Villette (1982–98) in Paris her

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Rote Tische, die über den Ausstellungsraum im Centre Pompidou verteilt sind, stellen einen Bezug zur Gestaltung des Parc de la Villette (1982–98) in Paris her

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Baustelle statt Kirchgang
Einmal darauf angesprochen, wie er denn zu seinem Beruf gekommen sei, hat Bernard Tschumi mit subtiler Selbstironie zu Protokoll gegeben: »Was soll jemand schon werden, der sich sonntags, wenn andere in der Kirche waren, an der Hand seines alten Herren auf Baustellen herumgetrieben hat?« Womit der Mann, dessen Markenzeichen rote Schals sind, seinem Vater Jean Reverenz erwies. Jean Tschumi zeichnete sich, unter anderem mit Verwaltungsgebäuden für Nestlé in Vevey und die Vaudoise in Lausanne, selbst als ein Meister seines Faches aus.

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Bernard Tschumi Retrospective
Centre Pompidou
Galerie Sud, Level 1
30 April – 28 Juli 2014

www.centrepompidou.fr

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