Wir leben in einer Zeit, in der Sakral-Architektur zum emotionalen Thema geworden ist. (Man denke an die jüngst getroffene Entscheidung der Schweiz, den Bau von Minaretten zu verbieten.) David Stephensons Buch mit beeindruckenden Fotografien von Kathedralen-Gewölben (publiziert bei der Princeton Architectural Press) ist daher vermutlich sehr zeitgemäss. Architonic schaut für Sie in die Höhe.

Der in Australien lebende Fotograf David Stephenson hat die Deckengewölbe von über 80 romanischen und gotischen Kirchen fotografiert, und zwar jeweils den Chor und das Hauptschiff als frontale Deckenuntersicht. Die Fotografien folgen unmittelbar hintereinander, so dass fast der Effekt eines überdimensionalen Daumenkinos entsteht. Geometrische Strukturen, symmetrische Muster aus Kraftlinien, Rippen, Gurten, Bändern und Lisenen variieren in scheinbar unendlicher Weise, ebenso Dekorationen und Ornamente aus Material und Farbe. Die Fotografien zeigen sehr lichte und klare, beeindruckend ruhige, überirdisch schöne Räume, mystische „Himmelsburgen“ – der Blick wird zum Licht nach oben gelenkt, zur spirituellen „Stadt aus Glas und Edelsteinen“.

Deckumschlag von 'Heavenly Vaults' von David Stephenson; Stiftskirche Saint-Urbain, Troyes, Frankreich, 1262-86

Rezension: 'Heavenly Vaults' von David Stephenson | Architettura

Deckumschlag von 'Heavenly Vaults' von David Stephenson; Stiftskirche Saint-Urbain, Troyes, Frankreich, 1262-86

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Stephenson, der in Philosophie promoviert hat, setzt als erste Fotografie erwartungsgemäss die Kuppel des Pantheon mit einem tiefschwarzen Opaion, gefolgt von steinernen Tonnengewölben in Saint Foy de Conques, in der Kathedrale von Santiago de Compostela und im Dom zu Speyer, über Viertelungen und Sechstelungen mit Kreuzrippen-Gewölben in Worms, Caen, Laon, Reims, Wells, Chartres, Amiens, Köln bis zu Tierceron- und noch komplexeren Netz- und Fächer-Gewölben in Lincoln, Exeter, York, Peterborough, Gloucester, Canterbury und Wien. Schliesslich folgen mit der Hochgotik sogenannte Diamant- und Stern-Gewölbe in Pirna, Danzing, Stargard, Norwich und Bath, wobei hier längst nicht alle Kirchen aufgelistet sind.

Klosterkirche Santa Maria, Hieronymuskloster, Belem, Portugal, 1501-17

Rezension: 'Heavenly Vaults' von David Stephenson | Architettura

Klosterkirche Santa Maria, Hieronymuskloster, Belem, Portugal, 1501-17

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Die Fotografien sind im Format 24 cm x 24 cm und damit ausreichend gross. Wahrscheinlich wären sie noch eindrucksvoller, wenn ein noch grösseres Format gewählt worden wäre, aber dann würde das Buch unweigerlich unhandlich werden. Das Problem liegt eher darin, dass alle Fotos, und zwar wirklich alle, unterschiedslos auf das gleiche quadratische Format gebracht sind. Damit geht jeglicher Bezug zur Dimension des Raumvolumens verloren. Manche besonders der romanischen Kirchenschiffe sind eher winzig im Vergleich zu den hochgotischen riesigen Hallen, alle haben unterschiedliche Längen, von recht kurzen Schiffen bis zu extrem überlangen für ritualisierte Prozessionshandlungen. Natürlich liesse sich jetzt argumentieren, dass aufgrund des immergleichen und neutralen quadratischen Formats die Konzentration ganz auf die tektonischen Strukturen gerichtet ist – doch lassen sich Konstruktion und Volumen tatsächlich trennen?

Dom der heiligen Barbara, Kutna Hora, Tschechische Republik, begonnen 1388, Gewölbe entworfen und geplant 1512, ausgeführt 1540-48

Rezension: 'Heavenly Vaults' von David Stephenson | Architettura

Dom der heiligen Barbara, Kutna Hora, Tschechische Republik, begonnen 1388, Gewölbe entworfen und geplant 1512, ausgeführt 1540-48

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Äusserst lobenswert ist dagegen, dass Stephenson im Anhang an seine Fotografien noch einmal die wesentlichen Prinzipien der gotischen Gewölbe und im Detail die unterschiedlichen Gewölbetypen mit Proportionsschemata und ihrer historischen und baukonstruktiven Entwicklung erklärt. In diesem Anhang werden die Fotografien in dem kleineren Format 4 cm x 4 cm neben den Text gestellt, wodurch sich das sonst bei sogenannten Endnoten lästige Hin- und Herblättern oder gar Lesen mit 2 Lesezeichen erübrigt. Spätestens hier wäre auch Gelegenheit gewesen, auf die Raumvolumina und deren Probleme der Lastabtragung einzugehen. Ein Raum hat 3 Dimensionen, Länge mal Breite mal Höhe. Stephenson spricht jedoch nur sporadisch die Höhe als Problem an – Soissons 30 m, Chartres 37 m, Amiens 43 m, Beauvais 48 m, Köln 46 m – doch 10 m Höhe mehr oder weniger sind im Mittelalter eine gewaltige baukonstruktive Herausforderung. Ein schmales hohes Schiff führt zu ganz anderen konstruktiven Lösungen als ein breiteres und niedrigeres. Aus diesen Gründen brachen schliesslich Teile der Kathedralen z.B. von Burgos und Sevilla während der Bauarbeiten 1539 bzw. 1511 zusammen. Gegen diese Lücke wirkt die vollständige und präzise Angaben der jeweiligen Jahreszahlen, auch der beiden zuvor genannten, ja schon exzessiv. Schade...

Chor von St Hugh, Kathedrale von Lincoln, England, Gewölbe 1192-1200

Rezension: 'Heavenly Vaults' von David Stephenson | Architettura

Chor von St Hugh, Kathedrale von Lincoln, England, Gewölbe 1192-1200

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Genauso bedauerlich ist, dass Stephenson keinerlei Informationen zu seiner Fotografie-Technik gibt. Mit welcher Kamera, welcher Brennweite und welcher Negativgrösse hat er wie fotografiert? Hat er wirklich auf dem Rücken gelegen und nach oben gesehen? Sind die Fotografien alle „echt“ oder z.B. hinsichtlich des Lichts digital nachbearbeitet? Das ist ja fast so, als würde ein Pianist nicht verraten, auf welchem Flügel er spielt, ob live oder im Studio.

Kathedrale von Laon, Frankreich, 1160-1230

Rezension: 'Heavenly Vaults' von David Stephenson | Architettura

Kathedrale von Laon, Frankreich, 1160-1230

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Nichtsdestotrotz, ein wunderbares Buch zum Sehen und Stauen! David Stephensons Fazit:

„An echo of the Gothic vault system of skeletonized reinforcing ribs can even be seen in some of the most innovative contemporary steel and concrete architecture, although the virtuosity of Gothic stone masonry techniques is gone forever.
Every Gothic church represents a solution by its creators to a range of spiritual, liturgical, political, economic, structural, and aesthetic problems. Though the remoteness of these concerns makes the understanding of them difficult for us today, we can relate to the great Gothic churches as some of the most compelling art ever produced, still capable of providing an all-encompassing, transcendent experience.“

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'Heavenly Vaults' von David Stephenson
Gebunden
192 Seiten, 237 Abbildungen
30 x 29 cm
Princeton Architectural Press
ISBN 978-1-56898-840-5
Erschienen 2009