Viele bedeutende Errungenschaften beruhen auf Zufälligkeit - wie zum Beispiel die Erfindung des Penicillins. Den Zufall hingegen als Methode zu verwenden war in den 1950-er und 60-er Jahren für Künstler und Designer noch eine revolutionäre Arbeitsweise, die zu umstrittenen Ergebnissen führte.

Viele bedeutende Errungenschaften beruhen auf Zufälligkeit - wie zum Beispiel die Erfindung des Penicillins. Den Zufall hingegen als Methode zu verwenden war in den 1950-er und 60-er Jahren für Künstler und Designer noch eine revolutionäre Arbeitsweise, die zu umstrittenen Ergebnissen führte.

Entgegen der Sachlichkeit und des Funktionalismus der Nachkriegszeit, die zum Beispiel durch den „Rat der Formgebung“ postuliert wurde, entstand eine anti-formale Tendenz. Joseph Beuys modellierte einen Stuhl mit Fett, Michelangelo Pistoletto formte Lumpenhaufen.

Bei Vertretern der Arte Povera ergaben sich Werke aus dem Wesen und der Möglichkeit des Materials: Giuseppe Penone manipulierte unter anderem den Wachstumsverlauf von Bäumen und Kartoffeln. Germano Celant, der den Begriff der „Arte Povera“ prägte, schreibt in seinem gleichnamigen Werk: „Alles ist anzutreffen in diesen Arbeiten: Rückstände aus der Geschichte, kurzlebige stoffliche Reste, Konstellationen aus organischen und mineralischen Stoffen(...)“.

Materialexperimente der 60er Jahre

Eine wahre Explosion experimenteller Formen in der jüngeren Designgeschichte ereignete sich in den 60-er Jahren. Neue Materialien waren verfügbar und Künstler und Designer begannen sie auszuprobieren. Der seit den 40er Jahren im Handel erhältliche Polyurethanschaum übte eine grosse Anziehungskraft aus. Die daraus entstehenden Formen sind aufgrund seiner sich unkontrolliert ausdehnenden Masse mehr oder weniger zufällig. Gunnar Aagaard Andersen war einer der PUR-Pioniere, er produzierte zwischen 1964 und 1965 eine Serie von Sesseln mit dem Titel „Portrait of my Mother’s Chesterfield Chair“ – sie stehen dem traditionsreichen Vorbild in ihrer Opulenz nicht nach.

Armchair (Portrait of my Mother’s Chesterfield Chair), 1964, Design: Gunnar Aagaard Andersen, Polyurethanschaumstoff © Tecta/MAK

Zufall als Entwurfsstrategie | Aktuelles

Armchair (Portrait of my Mother’s Chesterfield Chair), 1964, Design: Gunnar Aagaard Andersen, Polyurethanschaumstoff © Tecta/MAK

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Lynda Benglis formte Skulpturen aus Polyurethan, bekannt als „fallen paintings“. Ihr „Quartered Meteor“, entstanden 1969, markiert den Anfang einer Evolution von an die Wand gegossenen Sitzmöbeln, deren Form amorph ist. Jedoch sind die Entwürfe „Pools and Pouf“ von Robert Stadler und „Terrazza“ von Ubald Klug nicht mehr zufällig und einzigartig sondern bereits seriell hergestellte Polstermöbel.
Auch das Tapimöbel von Olivier Gregoire schmiegt sich an die Wand und benutzt sie als statische Abstützung, ist hingegen ein „echt zufälliges Möbel“ mit unvorhersehbarer Formbildung.

Quartered Meteor, 1970, Lynda Benglis für Carl Andre Pigmentierter Polyurethanschaum © Media Center for Art History & Archaeology | Columbia University

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Quartered Meteor, 1970, Lynda Benglis für Carl Andre Pigmentierter Polyurethanschaum © Media Center for Art History & Archaeology | Columbia University

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Terrazza DS 1025, 1973, Design: Ubald Klug für De Sede AG, Polster auf Holzsockel, Bezug Leder © Museum für Gestaltung Zürich, Designsammlung/ Franz Xaver Jaggy

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Terrazza DS 1025, 1973, Design: Ubald Klug für De Sede AG, Polster auf Holzsockel, Bezug Leder © Museum für Gestaltung Zürich, Designsammlung/ Franz Xaver Jaggy

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Pools and Pouf, 2004, Design: Robert Stadler für die Edition Klaus Engelhorn: Leder, Holz, PVC © MAK/Georg Mayer

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Pools and Pouf, 2004, Design: Robert Stadler für die Edition Klaus Engelhorn: Leder, Holz, PVC © MAK/Georg Mayer

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Tapisofa, 1964, Design: Olivier Gregoire, Konzept für den Ikea workshop © Olivier Gregoire

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Tapisofa, 1964, Design: Olivier Gregoire, Konzept für den Ikea workshop © Olivier Gregoire

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Neue Wohn-Formen

Sacco, 1968 entworfen non Gatti, Paolini und Teodoro, ist Ausdruck und Kultmöbel des Lebens- und Wohngefühls der 68-er Generation. Statt artig zu sitzen lümmelt man sich in dem frei formbaren Sessel, der nur lässige Posen erlaubt. Spätere Zitate von Sacco, wie der Ravioli Chair von Greg Lynn und Karim Rashids Superblob, sind sozusagen computergenerierte „Stills“ des interaktiven Sacco, der das Urgestein aller „Blobjects“ darstellt.

Sacco, 1968, Design: Piero Gatti, Cesare Paolini, Franco Teodoro für Zanotta, Styroporkügelchen in vinylbeschichteter Textilhülle © MAK/Georg Mayer

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Sacco, 1968, Design: Piero Gatti, Cesare Paolini, Franco Teodoro für Zanotta, Styroporkügelchen in vinylbeschichteter Textilhülle © MAK/Georg Mayer

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Kartoffeln sind die neue Chemie

Die „Pratt Chairs“ (1984) bilden eine Serie von 9 Stühlen von Gaetano Pesce, einem Pionier der freien Formen. Sie bestehen aus eingefärbtem Polyurethanharz, das Pesce von Hand in die gewünschte Form modellierte. Die Zähigkeit des Materials, das dann nach einer gewissen Zeit aushärtet und in einer bestimmten Position erstarrt, bestimmt die Gestalt der einzelnen Stühle. Später folgen die Dalilah Chairs in „Knetmännchen“-Optik, hier wurden festes Polyurethan und Urethanharz kombiniert.

Pratt Chair No. 7, 1983, Design: Gaetano Pesce © MAK/Georg Mayer

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Pratt Chair No. 7, 1983, Design: Gaetano Pesce © MAK/Georg Mayer

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Dalilah Chairs, 1992, Design: Gaetano Pesce © Gaetano Pesce

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Dalilah Chairs, 1992, Design: Gaetano Pesce © Gaetano Pesce

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Kunststoffe und Plastik besitzen die wunderbare Eigenschaften der einfachen Formbarkeit – stehen jedoch auch aufgrund ihrer Beständigkeit für einen grosse Umweltproblematik: Sie verrotten nicht.

Jerszey Seymour kehrte jüngst zurück zu den Wurzeln der Kunststoffexperimente. Seine Installation „Living Systems“ erinnert an die Polyurethan Experimente von Benglis. Doch verwendet er für seine Guss-Möbel Biopolymere, die er aus Kartoffeln und Milch kocht. Seymour opponiert wie schon Andersen, Pistoletto und Beuys gegen die Massenproduktion, deren Ursprung er im Funktionalismus des Bauhauses sieht und plädiert für das nachhaltige und Individuelle Designobjekt.

Living Systems, 2008, Jerszey Seymour für vitra © Jerszey Seymour

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Living Systems, 2008, Jerszey Seymour für vitra © Jerszey Seymour

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Die Illusion der Loslösung von Form und Material

Oskar Zietas Plopp Stuhl wirkt auf den ersten Blick wie ein Ableger des Zanotta-Sessels Blow-
doch hier handelt es sich nicht um ein „Luftmatratzenmöbel“. Die Raffinesse liegt in der absolut ungewöhnlichen Behandlung des Materials Stahl. Dank einer revolutionären
Technologie namens FIDU (Freie Innendruck Umformung), die er gemeinsam mit der ETH Zürich entwickelte, bläht er an den Konturen verschweisste Doppelblechteile mit Wasserhochdruck auf.

Plopp, 2008, Design: Oskar Zieta, Hersteller HAY

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Plopp, 2008, Design: Oskar Zieta, Hersteller HAY

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Blow, 1967, Design: Gionatan De Pas, Donato D’Urbino, Paolo Lomazzi, Carla Scolari, für Zanotta, PVC © Museum für Gestaltung Zürich, Designsammlung/ Franz Xaver Jaggy

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Blow, 1967, Design: Gionatan De Pas, Donato D’Urbino, Paolo Lomazzi, Carla Scolari, für Zanotta, PVC © Museum für Gestaltung Zürich, Designsammlung/ Franz Xaver Jaggy

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Auch denkbar unelastische Materialien wie Porzellan und Glas werden in anderen Aggregatzuständen zu weichen Massen, deren fliessend anmutende Form beim Aushärten „eingefroren“ werden kann.

Die „Spineless Lamp“ von Droog Design entwickelt während dem Brennverfahren eine individuelle Form aufgrund verschiedener Dicken des Porzellans.
Auch der Leuchte PX 02 sieht man an, dass die Zustände fest und flüssig nur eine Frage der Umgebungstemperatur sind. Die Serie von Pyrex Leuchten entstand während einem Workshop von Jungdesignern mit dem Pyrex-Spezialisten Massimo Lunnardon. Der Moment zwischen Fliessen und Erstarren scheint bei PX 02 festgehalten worden zu sein.

Spineless Lamp, Design Frederik Roijé, für droog, © droog

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Spineless Lamp, Design Frederik Roijé, für droog, © droog

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PX 02, Design Masahiro Fukuyama für Fabrica workshop, Hersteller metalarte

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PX 02, Design Masahiro Fukuyama für Fabrica workshop, Hersteller metalarte

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In der experimentellen Formfindung bieten sich immer neue Spielarten zweier bewährter Methoden:
Altes Material neu zu behandeln, oder neue Materialien auszureizen. Faszinierend ist und bleibt die unendliche Anzahl von Ergebnissen, die letztendlich den Prozess der Formation kleinster Teilchen widerspiegeln.


Ausstellung: Formlose Möbel, Museum für Gestaltung Zürich, bis 14.02.2010