Architonic besuchte die in Paris ansässige Organisation VIA, die junge französische Design-Talente aufzuspürt und zu fördert.

"Uns bleibt immer noch Paris", beruhigt Humphrey Bogart im Filmklassiker 'Casablanca' Ingrid Bergman. Für die meisten Besucher der diesjährigen Maison & Objet, die im Parc des Expositions stattfand, hatten die Präsenz der grossen Namen der Möbel-Branche in der Tat etwas Beruhigendes. Die glamourösen Standbauten der High-End-Hersteller verströmten das Gefühl, dass vielleicht doch alles nicht so schlimm ist, wie wir dachten. Ligne Roset, als Aushängeschild der gallischen Möbelindustrie, geht sogar soweit in ihrem neuen Katalog zu fragen: 'Wer spricht von Krise?' (Mehr dazu später.)

'VIA Design 3.0' exhibition at the Pompidou Centre, 2009, with François Azambourg's 'Bois-Mousse' chair and footrest (1999) in foreground; photo © Hervé Véronèse, Centre Pompidou, 2009

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'VIA Design 3.0' exhibition at the Pompidou Centre, 2009, with François Azambourg's 'Bois-Mousse' chair and footrest (1999) in foreground; photo © Hervé Véronèse, Centre Pompidou, 2009

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Zwei andere Ausstellungen, die parallel zu Maison&Objet laufen, haben ihren Fokus auf die Design-Stars von morgen gelegt, statt jene zu zeigen, die es schon geschafft haben. Beide Ausstellungen sind von VIA organisiert, einer von CODIFAB (kurz für: Comité pour le développement des industries françaises de l'ameublement) gegründeten Vereinigung, welche die Unterstützung des Wirtschaftsministeriums geniesst.

'Bibliothèque' by Gaetano Pesce, 1981

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'Bibliothèque' by Gaetano Pesce, 1981

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VIA, Valorisation de l'innovation de l'ameublement, die in diesen Tagen ihr dreissig-jähriges Bestehen feiert, beschreibt sich selbst als ‚Plattform zum Austausch zwischen Designern, Artdirektoren, Herstellern und Händlern’. Patrice Juin, Projektleiter bei VIA, umreisst ihre Funktion sehr prägnant: ‚Wir sind ein Labor’. Diese Labor stellt jedes Jahr die Mittel zur Förderung von Projekten junger Designer zur Verfügung und bringt damit neue Talente in das Licht der Öffentlichkeit. Bekannte Grössen der Branche, wie Philippe Nigro, Inga Sempé, und die Bouroullec Brüder wurden einst durch VIA gefördert und entdeckt.

'Théophile, hommage à Jean Prouvé' by Marc Berthier, 1984

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'Théophile, hommage à Jean Prouvé' by Marc Berthier, 1984

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Mit einer Retrospektive im Centre Pompidou zeigt VIA seinen dreissigjährige Geschichte anhand der Prototypen, die aus ihrem jährlichen Förderprogramm hervorgingen. Die chronologische Anordnung der Ausstellungsstücke erscheint wie ein 'Who's who’ des französischen Designs. Gaetano Pesces Büchergestell 'Bibliothèque' (1981) aus Polyurethanschaum liest sich wie ein provokatives, antitraditionelles Gründungs-Manifest der neuen Organisation. Als Gegenstück pflegt der 'Chaise Théophile, hommage à Jean Prouvé' von Marc Bethier einen allzu geschichtsbewussten Umgang mit Design. Abgesehen vom Namen verweisen die Stuhlbeine aus genietetem und gefalztem Stahlblech formal auf den berühmten Designer, dessen Entwürfe ingenieurtechnisch geprägt waren.

'Ghosthome' armchair by Jean-Marie Massaud, 1985

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'Ghosthome' armchair by Jean-Marie Massaud, 1985

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Jean-Marie Massauds 'Ghosthome' armchair (1995), Matali Crassets 'W at hom' (1996) und Patrick Jouins 'Chaise Steel Life' (1996), alles Prototypen für VIA, sind an der Ausstellung in Beaubourg ebenfalls zu sehen. Ihre Arbeiten spiegeln verschiedene Anliegen wider.

'Chaise Steel Life' by Patrick Jouin, 1996

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'Chaise Steel Life' by Patrick Jouin, 1996

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Ein sehr linear und graphisch geprägtes Werk, das gleichzeitig eine Materialinnovation darstellt, findet sich in François Azambourgs Sessel mit Ottoman namens 'Bois-Mousse’ von 1999. 'Bois-Mousse’, was soviel wie Holzschaum bedeutet, spielt auf die innovative Materialkombination an: Das elastische, speziell für die Luftfahrt entwickelte Birkensperrholz wurde vollflächig mit geschäumtem Gummi natürlicher Herkunft überzogen. Als das spektakulärste Ausstellungsstück könnte man Erwan Bouroullecs 'Lit Clos' (2000) bezeichnen, das nicht nur ein Möbelstück, sondern als ‘Raum im Raum’ auch eine architektonische Erfindung darstellt.

'Lit Clos' by Erwan Bouroullec, 2000

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'Lit Clos' by Erwan Bouroullec, 2000

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In einem Rückblick auf die letzten 30 Jahre der französischen Designgeschichte darf Philippe Starck natürlich nicht fehlen. Zwischen 1980 und 1990 stand sein Name für ein neues Phänomen in der Designwelt: Der Designer als Superstar. Starck wurde mit einer nur ihm gewidmeten Ausstellung 'exhibition within an exhibition' bedacht, in der eine Reihe von Arbeiten die mit VIA entstanden sind ausserhalb des chronlogischen Kontextes der übrigen Ausstellung gezeigt werden. Starck war es auch, der 1985 mit der Gestaltung von VIAs erstem Firmensitz im zentralen und angesagten Les Halles Quartier beauftragt wurde.

'Costes' armchair by Philippe Starck, 1982

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'Costes' armchair by Philippe Starck, 1982

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Trotz des retrospektiven Aufhängers geht es bei VIA sicher nicht um Museumsstücke. In einem überwältigenden Räumlichkeiten in der Avenue Daumesnil, inmitten der Viaduktbögen des alten Viaduc des Arts, findet die zweite VIA Ausstellung statt, bei der sich alles um das ‘Hier und Jetzt’ dreht. Gezeigt werden die ausgewählten Projekte, die in den Genuss des diesjährigen VIA Förderprogrammes kamen. ‘Um es kurz zu fassen, geht es bei VIA um Prototyp, Prototyp und nochmals Prototyp,’ erklärt Patrice Juin gegenüber Architonic. ‘Das ist unsere Daseinsberechtigung, unser raison-d'etre. Mit einem Prototypen im Massstab 1:1 kann man alles testen: Material, Widestandsfähigkeit, Bequemlichkeit und gestalterische Qualität. Dazu ist der Prototyp noch das beste Werbemittel: Er lässt sich für Bilder verwenden, er bietet einen anschaulichen Gegenstand zur Diskussion zwischen Designer, Hersteller, Händler und so weiter. Er lässt sich an Messen zeigen oder an in einer privaten Ausstellung, wo immer man will. Deshalb denken wir, dass der Prototyp der beste Weg ist, um die Bekanntheit und Begabung von Designern zu fördern, denn der Prototyp ist einfach unmittelbar.’

'Flex' chair (detail) by Itamar Burstein, 2010

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'Flex' chair (detail) by Itamar Burstein, 2010

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Auch die diesjährige Kollektion an Prototypen strahlt diese Unmittelbarkeit aus: Von Materialinnovationen bis zu Projekten, die neue Prozesse vorstellen, zeigt sich ganz deutlich, dass die Investition von Telent, Zeit und Geld einen Wert ergibt. Überwiegend werden Projekte gezeigt, die im Rahmen des sogenannten ‘Projektförderungs-Stipendium’ entstanden sind. Hoffnungsvolle Jungdesigner reichen ihre –manchmal mehr, manchmal weniger entwickelten- Projekte ein und die glücklchen Finalisten erhalten eine finanzielle Unterstützung für die Umsetzung ihrer Ideen.

'Pentagon' table and stool by Itamar Burstein, 2010

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'Pentagon' table and stool by Itamar Burstein, 2010

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Itamar Burstein wurde eingeladen, zwei Prototypen in Form der Tisch-Stuhl-Kombination ‘Pentagon’ herzustellen. Die Geometrie des Möbels dient dem konstruktiven Zweck, fünf identische Elemente ohne mechanische Befestigung oder Leim zusammenzuhalten. Noch innovativer ist das 'Flex' Projekt, das eine völlig neue Methode der Formholzbearbeitung vorstellt. Die herkömmliche Technik beinhaltet drei aufeinanderfolgende Vorgänge (das Holz wird gedämpft, in Form gebracht und dann getrocknet), jedoch werden Itamars 'Flex'-Set aus Stuhl, Tisch, und Garderobe mittels einer viel einfacheren Fabrikationsmethode hergestellt. Das Kernstück des Hauptelementes wird entfernt, dadurch wird einen Biegung in trockendem Zustand möglich, was eine Einsparung an Werkzeug, Zeit und Energie mit sich bringt.

'Rythme' table by Émilie Colin Garros, 2010

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'Rythme' table by Émilie Colin Garros, 2010

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Die Entfernung von Teilen gehört auch zum Konzept von Emilie Colin Garros. Ihr Tisch namens 'Rhythm' wird aus einem einzigen Metallblech hergestellt, aus dem Teile mit Laser ausgeschnitten und dann gefaltet werden. Die ausgeschnittenen Teile der Tischplatte werden nach unten gebogen und bilden den Tischfuss - negativ wird zu positiv und vice versa. Ein zweidimensionales Blech verwandelt sich in dreidimensionalen Objekt, das durch seine filigrane Auffächerung eine starke ästhetische Präsenz erhält. Eine formale Augenfälligkeit besitzt auch Antoine Fritsch's 'DLR' Sessel aus Rattan und Edelstahl. Abgesehen von seinen formalen Qualitäten zeigt DLR neue Methoden auf, die verwendeten Materialien zu verarbeiten. Fritsch setzte digitalen Metall-Schneidemaschinen ein und konnte damit aus dem Stuhlgestell Halterungen schneiden, an denen das Rattangeflecht befestigt wird.

'DLR' seat by Antoine Fritsch, 2010

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'DLR' seat by Antoine Fritsch, 2010

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Fritsch ist jedoch nicht der einzige Designer, der sich mit Rationalisierungsprozessen beschäftigt. Der 'Wood'-Stuhl von Richard Perron's wird digital gesteuert aus einem einzigen Holzstück geschnitten. Stéphane Maupins 'Saint Clair’ Solarlampe besitzt Photovoltaik Zellen auf der Unterseite des Lampenfusses. Das erscheint etwas sinnlos, bis man den Clou der Idee entdeckt: Mittels Saugnäpfen kann der Sockel der Lampe ans fenster geheftet werden, um das Sonnenlicht sozusagen aufzusaugen. Sind die Zellen geladen, wird der Sockel abgenommen und die Lampe einfach angeknipst.

'Wood' chair by Richard Perron, 2010

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'Wood' chair by Richard Perron, 2010

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'Saint Clair' lamp by Stéphane Maupin, 2010

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'Saint Clair' lamp by Stéphane Maupin, 2010

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Die anderen Projekte der Ausstellung sind das Ergebnis weiterer VIA Fördermassnahmen. 'Partnership Projects' sind von VIA unterstützte Kooperationen zwischen Designern und Herstellern, die auf Materialinnovationen oder Prozessoptimierung thematisieren. Technologie-Transfer ist ein grosses Thema an dieser Stelle. Elise Gabriel hat gemeinsam mit TheGreenFactory die Möglichkeiten von zelfo untersucht, einer zu 100% biologisch abbaubaren zellulosepaste. Das Resultat ist ‘The Zelfo Embrace’, ein Stuhl, Gestelle und eine Lampe, deren Form und Ästhetik seltsam und gleichzeitig bezwingend anmuten. Der Designer Vincent Poujardieu ging eine Partnerschaft mit Euro-Shelter ein, einer Firma, die sich auf die Entwicklung und Produktion von Leichtbaustrukturen spezialisiert hat, unter anderem für Militärzwecke. Daraus ging der Tisch ‘Nida’ hervor, dessen Tischfläche au seiner zwar ultraleichten, jedoch auch hochstabilen Sandwichplatte besteht, die aus zwei Aluminiumblechen und einem wabenförmigem Kern konstruiert wird. Das Ergebnis sind bis zu 5m Spannweite zwischen den beiden Auflagern.

'The Zelfo Embrace' chair by Elise Gabriel & TheGreenFactory, 2010

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'The Zelfo Embrace' chair by Elise Gabriel & TheGreenFactory, 2010

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'Nida' table by Vincent Poujardieu & Euro-Shelter, 2010

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'Nida' table by Vincent Poujardieu & Euro-Shelter, 2010

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Der Hauptpreis wird jedes Jahr in Form der VIA 'Carte Blanche' vergeben, den diejenigen Designer erhalten, deren gestalterischer Arbeit Originalität und Reife attestiert wird. 'Carte Blanche' Projekte tendieren dazu, konzeptueller und nachdenklicher zu sein als andere. Das etablierte Designkollektiv Faltazi, die schon Produkte für Rowenta und Tefal gestaltet haben, entwarfen ‘Ekokook’. Eine Konzeptküche die - kurz gesagt - wenig Energie benötigt und keinen Abfall produziert. Das Projekt soll eine Diskussionsfläche, ein provokativer Kommentar sein, wenn man so will. Eine Kompostier-Zelle, die mit Würmern und Geziefer bestückt ist, kann man belächeln, die Message ist jedoch klar und deutlich und auch politisch motiviert. Denn die Verantwortung für die Umwelt liegt bei uns allen, Designer, Händler, Verbraucher: wir sind alle beteiligt.

'Ekokook' concept kitchen by Faltazi (Victor Massip & Laurent Lebot), 2010

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'Ekokook' concept kitchen by Faltazi (Victor Massip & Laurent Lebot), 2010

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Die Metapher von VIA als Labor, in dem Ideen und Konzepte auf Herz und Nieren
geprüft werden, halt stand. Doch das Labor ist kein Hochsicherheitstrakt, in dem geheime Forschungsarbeit betrieben wird. Patrice Juin meint dazu: 'Dies ist ein offenes und freies Haus. VIA wurde vor 30 Jahren gegründet, um den Produzenten zu dienen. Ligne Roset zum Besipiel versteht ganz genau, wie sie VIA benutzen müssen: Sie kommen oft vorbei um sich umzusehen und um Neues zu entdecken. Das ist sehr dynamisch. Ligne Roset glaubt an junge Designer. Bei VIA ist jedoch wirklich jeder willkommen.'

Nun dann: Nichts wie los, das Angebot steht!

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