Die laufende Ausstellung im Vitra Design Museum ,Die Essenz der Dinge: Design und die Kunst' untersucht die Idee der Einfachheit in Bezug auf Design. Diese Einfachheit findet sich nicht nur im Formalen wieder, sondern auch in der Methodik oder im verwendeten Material. Die Ausstellung verdeutlicht, dass die Reduktion auf das Essentielle nicht etwa nur eine Reaktion auf globale, ökonomische oder ökologische Entwicklungen ist - vielmehr zieht sich Minimalismus konstant durch die Design-Geschichte. Architonic war für Sie vor Ort und sprach mit Mathias Schwartz-Clauss, dem Kurator der Ausstellung.

,Einfachheit entsteht nicht nicht einfach so. Im Gegenteil: Die Evolution entwickelt sich davon weg!' schreibt Edward de Bono, einer der führenden Lehrer für kreatives Denken. Er prägte den Ausdruck ,laterales Denken' in seinem 1967 erschienenen Buch 'The Use of Lateral Thinking': Je fortschrittlicher eine Gesellschaft ist, desto komplexer werden deren Systeme, so seine These. Sein 1999 publiziertes, manifestartige Buch ,Simplicity' sollte uns aufrütteln, unsere Weltsicht zu hinterfragen und zu rationalisieren. Sowohl in ideeller Hinsicht, als auch in der Art, wie wir unsere Welt gestalten. Komplexe Ideen können seiner Meinung nach immer auch einfach ausgedrückt werden. Andererseits könnte man argumentieren, dass komplexe Sachverhalte auch eine exakte und detaillierte Beschreibung erfordern, um sie korrekt wiederzugeben.

,Die Essenz der Dinge: Design und die Kunst' Ausstellung im Vitra Design Museum, 2010

Minimales Design - die Kunst der Reduktion aufs Wesentliche | Aktuelles

,Die Essenz der Dinge: Design und die Kunst' Ausstellung im Vitra Design Museum, 2010

×

,Die Essenz der Dinge: Design und die Kunst' will aufzeigen, dass das Verlangen, die Dinge möglichst einfach zu gestalten, schon immer da war. Verdeutlicht wird das durch die verschiedensten Objekte namhafter und namenloser Gestalter, sei es visuell, materiell oder technisch. So schliesst die Ausstellung so verschiedene Exponate ein wie zum Beispiel Verner Pantons 'Barboy' Servierwagen oder ein Modell der 'Atomium' Skulptur für die Weltausstellung in Brüssel bis hin zum Maggi Suppenwürfel.

Autorenlose Alltagsobjekte sind genauso Gegenstand der Ausstellung wie Produkte namhafter Designer © Collection Vitra Design Museum, Weil am Rhein; Foto Andreas Sütterlin

Minimales Design - die Kunst der Reduktion aufs Wesentliche | Aktuelles

Autorenlose Alltagsobjekte sind genauso Gegenstand der Ausstellung wie Produkte namhafter Designer © Collection Vitra Design Museum, Weil am Rhein; Foto Andreas Sütterlin

×

Die organisatorische Struktur der Ausstellung zeigt die Vielfalt reduzierten Ausdrucks im Design, und wird in Kategorien wie ,Verdichtung', ,Geometrie', ,Abstraktion' und ,Leichtigkeit' zusammengefasst. Unter den Gesichtspunkten der ökonomischen Rezession und der ökologischen Verantwortung ist die Reduktion von Material ein ansprechender Gedanke. Mies van der Rohes Leitspruch ,Less is more' scheint heutzutage aktueller denn je zu sein.

Mathias Schwartz-Clauss meint dazu: ,Die ökonomische Krise und der daraus resultierende Diskurs über bleibende Werte und Langlebigkeit waren die Auslöser für diese Ausstellung. Günstige und ökonomische Lösungen hinsichtlich Produktion schlagen sich auf den Kaufpreis für den Endkunden nieder.'

'Mezzadro' (No. 220) von Achille und Pier Giacomo Castiglioni, 1954-57; © Vitra Design Museum; Foto Thomas Dix

Minimales Design - die Kunst der Reduktion aufs Wesentliche | Aktuelles

'Mezzadro' (No. 220) von Achille und Pier Giacomo Castiglioni, 1954-57; © Vitra Design Museum; Foto Thomas Dix

×

Der Arbeitstitel der Ausstellung war denn auch das berühmte Mies'sche Axiom ,Less is more', teilt uns Mathias Schwartz-Clauss mit. Impliziert dies nicht auch eine gewisse politische Bedeutung der Ausstellung? ' Das glaube ich nicht', antwortet Schwartz-Clauss spontan und erklärt: ,Bestimmt könnte man hier und da eine politische Tendenz orten, doch das Thema ist sowohl geographisch als auch geschichtlich so breit angelegt, dass man wohl kaum behaupten könnte, dass ein politischer Standpunkt eingenommen wird.'

Tatsächlich umfasst die Ausstellung einen grossen Abschnitt der Designgeschichte. Die Kategorie ,Modell' präsentiert eine Reihe an Objekten - die meisten davon Stühle - die weit hinter die Ära der industriellen Produktion zurückreichen, wie zum Beispiel ein antiker Kriegshelm. Ein Schaukelstuhl aus dem 19. Jahrhundert wurde ebenso ausgewählt wie Jasper Morrison's ,Ply-Chair’ aus dem Jahr 1988, um zu verdeutlichen, auf wie viele verschiedene Arten das Einfache seinen Ausdruck findet.

'Acrilica' von Joe Colombo, 1962; © Studio Joe Colombo, Mailand; Foto Andreas Sütterlin

Minimales Design - die Kunst der Reduktion aufs Wesentliche | Aktuelles

'Acrilica' von Joe Colombo, 1962; © Studio Joe Colombo, Mailand; Foto Andreas Sütterlin

×

Eine Ausstellung dieser Art wirft eine wichtige Frage auf: Wer entscheidet eigentlich, was einfach ist und was nicht? Wie kann man Rationalität messen? Die Antwort ist: Das wird wohl immer relativ bleiben. Mathias Schwartz-Clauss bestätigt dies und verweist auf den barocken Garten, der in der Ausstellung gezeigt wird. Dieser zeigt zwar ein komplexes Gestaltungsmuster, ist jedoch gleichermassen auch ein Meisterstück an Abstraktion und Vereinfachung verglichen mit den anderen Gartenformen dieser Zeit. Das Ornament ist in den Augen des Modernisten Adolf Loos vielleicht ein Verbrechen, doch nach der Logik der Vitra Ausstellung schliesst das Ornament nicht aus, dass ein Minimum an Zeit und Material verwendet wurde. Der Ausstellungskatalog weckt hingegen einen ganz anderen Eindruck: Die Titelseite zeigt Shigeru Bans 'Carbon Fiber Chair' im Profil, wodurch der ohnehin schon sehr graphische Stuhl einen noch minimaleren und lineareren Charakter bekommt. Objekte dieser Art wecken weit mehr die Assoziation der ,Reduktion' als ein Barockgarten.

Gestapelte Stühle aus Fiberglas, DSS (1954) und Sessel DAX (1950) von Charles Eames, 1954; © Vitra

Minimales Design - die Kunst der Reduktion aufs Wesentliche | Aktuelles

Gestapelte Stühle aus Fiberglas, DSS (1954) und Sessel DAX (1950) von Charles Eames, 1954; © Vitra

×

Wenn die Relativitätsfrage in der Diskussion über die Reduktion eine so zentrale Rolle spielt, warum hat Mathias Schwartz-Clauss sich nicht für eine Gegenüberstellung von Objekten desselben Typs, jedoch mit verschiedenem Grad dieser Reduktion entschieden?
,Im Fall des Eames Glasfaser-Stuhls wollten wir die Entwicklung dieses speziellen Produkts aufzeigen. Die gestalterische Lösung des Objektes ist einfach: Der Stuhl ist vielseitig, und kann als Sitzgelegenheit in den verschiedensten Kontexten platziert werden. Aber die Entwicklungsphase, die zu dieser Lösung führte, war hochkomplex und schloss eine Menge Forschungsarbeit ein, bei der die unterschiedlichsten Materialien in Betracht gezogen wurden. Unter anderem waren die University of California und das Museum of Modern Art involviert. Diese narrative Reduktion, die auf einem iterativen Prozess beruht, zeigt tatsächlich, dass ein relativer Kontext nötig ist, um die Reduktion eines Objekts auf das Wesentliche messen zu können.’

Besonders formal gesehen besteht ganz klar auch eine ästhetische Funktion in der gestalterischen Reduktion. Die Bewegung der Moderne postulierte am Anfang des 20. Jahrhunderts eine radikale Rationalisierung – scheinbar stillos, jedoch stilbildend – die sich in der Architektur, im Möbeldesign und in anderen Produkten manifestierte. Diese Rationalisierung hatte einen nachhaltigen Einfluss auf unsere Wahrnehmung, was gutes Design ist und wie es auszusehen hat: Nämlich visuell unkompliziert und ‚clean’.

Modell des 'Atomium' von André Waterkey, ca.1958; © Christie's Images Limited; Foto Andreas Sütterlin

Minimales Design - die Kunst der Reduktion aufs Wesentliche | Aktuelles

Modell des 'Atomium' von André Waterkey, ca.1958; © Christie's Images Limited; Foto Andreas Sütterlin

×

Es besteht auch eine emotionale Gestaltungs-Ebene, die von Schwartz-Clauss in der Ausstellung anerkannt und untersucht wird.
’Genauso sehr wie das komplexe Regelwerk, das die Ausstellung bereitstellt um die den Sachverhalt verständlicher zu machen, wollten wir ihr auch einen emotionalen Wert verleihen. Es ist wichtig, die Texte zu lesen, doch manche Objekte transportieren direkt eine Nachricht an den Betrachter.’

Was diese Nachricht für den einzelnen bedeutet, kann natürlich nicht garantiert werden:
Essentialismus muss offen für Interpretationen bleiben. Der Endkunde und der Museumsbesucher entscheiden nicht nur, ob ein Objekt ,einfach’ ist oder nicht, sie bestimmen auch die Bedeutung dieser Einfachheit. In seinem Essay für den Ausstellungskatalog zieht Schwartz-Clauss das Beispiel eleganter Apartements heran, die im ,Minimal Design’ gehalten wurden.
Die Schlichtheit dieser asketischen Interieurs ist eine bewusste Wahl – eine Überlegenheit signalisierende Geste des Verzichts, die Konzentration auf das Essentielle, vielleicht sogar in Erwartung einer Erleuchtung. Auf der einen Seite der Welt ist die Einfachheit ein Erkennungsmerkmal einer Elite, die dieselbe codierte globale Sprache spricht, in einem anderen Teil der Welt bedeutet Einfachheit reines Elend und Entbehrung.

Etwas unklar bleibt die Beziehung zwischen Reduktion und Nachhaltigkeit. Theoretisch gesehen müsste die formale Einfachheit eine Einsparung an Material mit sich bringen, gekoppelt mit einer Rationalisierung der Produktion und des Distributionsprozesses. Das wäre zumindest erstrebenswert. Im ersten Raum der Ausstellung stossen wir auf eine transparente Kiste, die drei Dutzend Bausätze eines Thonet 'No. 14' Stuhls enthält. Gleich daneben befindet sich in einem flachen Paket das ‚Billy’ Regal, der Megaseller von IKEA.
Hier liegt der Augenmerk auf der Logistik. Das vereinfachte, modulare Design beider Objekte vereinfacht deren Transport. Doch bedeutet diese Vereinfachung eines Gutes, die zu einer grösseren Verteilung führt und die Menge der Konsumenten erhöht, nicht das Gegenteil von ,Reduktion’? Less is more im Sinne von ‚mehr Menge’ statt ,mehr Qualität’?

Ein-Kubik-Meter Kiste mit den Bausätzen für 36 Thonet 'No. 14' Stühlen; © Vitra Design Museum; Foto Thomas Dix

Minimales Design - die Kunst der Reduktion aufs Wesentliche | Aktuelles

Ein-Kubik-Meter Kiste mit den Bausätzen für 36 Thonet 'No. 14' Stühlen; © Vitra Design Museum; Foto Thomas Dix

×

Schwartz-Clauss entgegnet hinsichtlich der Gegenüberstellung von Thonet Stuhl versus IKEA Regal:
,Beides sind Möbelstücke, die seit langer Zeit bestehen und nicht einfach durch andere ersetzt wurden. Sie dienen einem bestimmten Zweck. Das ,Billy’ Regal findet sich überall auf der Welt in unzähligen Studentenbuden. Der Thonet Stuhl wurde früher vielerorts eingesetzt für Massenbestuhlungen in Ballsälen, Cafés und so weiter. Ich glaube nicht, dass dies zwei Beispiele für den Konsumterror sind, die ich in vielen anderen Produkten erkenne.’

Zweifellos hat der Thonet Stuhl zu grossen Teilen aufgrund seiner Ästhetik und Langlebigkeit den Status einer Ikone gewonnen. Aber das schwedische Bücherregal? Da es immer noch ein Verkaufsschlager bei IKEA ist, leben Sie bestimmt nicht weit weg von einem Billy Exemplar. Sein relativ niedriger Preis garantiert einen gewissen Verkaufs- und Entsorgungszyklus: 40 Millionen Regale wurden seit seiner Markteinführung im Jahre 1978 verkauft. Schnell gekauft – schnell entsorgt.

Doch Unklarheiten sind Teil der Sache: Eine durchdachte, gut gestaltete Ausstellung lässt den Besucher immer mit mindestens so vielen Fragen zurück, wie sie Antworten liefert. Für die gegenwärtige Ausstellung im Vitra Design Museum ist das sicherlich der Fall.
Wenn es um die Kunst der Reduktion geht, beweist ,Die Essenz der Dinge'
einmal mehr, dass die Dinge eben niemals einfach sind.

Erwähnte Produkte