Sie sieht aus wie ein offener Raum, aber hinter mobilen Wänden birgt diese winzige Wohnung viele Überraschungen.

Gary Chang, ein Architekt aus Hongkong, lebt in einer winzigen Wohnung. Aber dank seiner Wände, die an ein Akkordeon erinnern, kann er mindestens 24 verschiedene Raum-Konfigurationen erstellen. Er setzt bewegliche Wandeinheiten ein, die an den in die Decke eingelassenen Stahlschienen hängen. So entstehen aus der Wohnung alle Arten von Flächen: Küche, Bibliothek, Waschraum, Umkleideraum, ein Wohnbereich mit Hängematte, eine integrierte Essenszone und eine Theke.

Photos: Marcel Lam für The New York Times

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Gary Chang stand kürzlich an einem Samstagmorgen in der Mitte seiner Wohnung und ignorierte die Botschaft seines Nintendo Wii auf dem Wandbildschirm. „Bist du am Herumhampeln? Ich kann dich nicht analysieren.” Er rückte das „Balance Board” für sein Spiel zurecht und startete seine zweite virtuelle Skiabfahrt, bewegte sich dabei von einer Seite zur anderen während eine Computerfigur im Gleichschritt mit ihm durch den Raum schwirrte. Bald darauf plagte ihn den Hunger. Er benutzte seine Fernbedienung, um die Leinwand zu heben und den Blick auf ein dahinter liegendes gelb gefärbtes Fenster freizugeben, das den Raum mit seinen Strahlen füllte. „Wie Sonnenschein”, sagte Mr. Chang, obwohl das gefärbte graue Tageslicht den Anblick - die Wohntürme in Hongkongs munterem Arbeiterviertel Sai Wan Ho – wie ein alter vergilbter Druck aussehen liess.

Die beweglichen Wandeinheiten, die an den in die Decke eingelassenen Stahlschienen hängen, scheinen einige Zentimeter oberhalb des Granitbodens zu schweben.

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Die beweglichen Wandeinheiten, die an den in die Decke eingelassenen Stahlschienen hängen, scheinen einige Zentimeter oberhalb des Granitbodens zu schweben.

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Er nahm den Griff neben dem an der Wand befestigten Fernsehgerät in die Hand und zog damit einen Teil der Wand ins Zentrum des Raumes. Dahinter stehen zwei Kochplatten, ein Spülbecken und ein Gewürzregal. Gegenüber auf der Rückseite der jetzt verschobenen Wand senkt er eine schwenkbare Arbeitsplatte aus leichtem Laminat und durchlöchertem Aluminium. So stand er auf einmal in der Küche.
Die beiden Räume – die „Maximalküche“ , wie er sie nennt - und „der Videospielraum”, in dem er noch kurz zuvor gesessen hatte, sind nur zwei Räume von mindestens 24 verschiedenen Anordnungen, die der Architekt Mr. Chang seiner 32 Quadratmeter grossen Wohnung auferlegen kann. Was wie ein Grossraumstudio aussieht, enthält tatsächlich viele Räume. Die gleitenden Wandeinheiten, die faltbaren Tische und Stühle und die passenden Bewegungsabläufe des Bewohners im kleinen Raum machen es möglich. „Ich gleite umher.” wie Mr. Chang es ausdrückt.

Hinter der CD-Wand befindet sich eine Nische mit Waschmaschine und Trockner sowie eine Wand für den Fernseher.

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Hinter der CD-Wand befindet sich eine Nische mit Waschmaschine und Trockner sowie eine Wand für den Fernseher.

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Der 46 Jahre alte Mr. Chang lebt seit seinem 14. Lebensjahr, als er mit seinen Eltern und seinen drei jüngeren Schwestern hier einzog, in dieser Wohnung im siebten Stock. Sie mieteten diese Wohnung von einer Frau, die so viele Wohnungen besass, dass sie oft vergass, die Miete zu kassieren. Wie die meisten der 370 Wohneinheiten in diesem 17-stöckigen Gebäude aus den 60er Jahren wurde die kleine Fläche in verschiedene winzige Räume unterteilt. In diesem Fall waren es Schlafzimmer, Küche, Bad und Flur. Mr. Changs Eltern teilten sich das grössere Schlafzimmer. Als sie einzogen, lebte sein Vater allerdings in den USA, wo er in verschiedenen Städten als Kellner in chinesischen Restaurants arbeitete. Seine Schwestern teilten sich das zweite Schlafzimmer und in dem dritten wohnte – es klingt unglaublich, aber es ist für Hongkong nicht ungewöhnlich – eine Untermieterin. An sie erinnert sich Mr. Chang nur wegen des Platzes, den sie beanspruchte. Mr. Chang schlief im Flur auf einem Sofa.

Die Wände im zentralen Raum, der durch gefärbte Fenster ganz in Gelb getaucht ist, werden gegen die linke Wand gerückt, um eine Freifläche zu schaffen, wobei sich links eine anschauliche CD-Sammlung und rechts ein Schreibtisch befindet.

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Die Wände im zentralen Raum, der durch gefärbte Fenster ganz in Gelb getaucht ist, werden gegen die linke Wand gerückt, um eine Freifläche zu schaffen, wobei sich links eine anschauliche CD-Sammlung und rechts ein Schreibtisch befindet.

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Heute benutzt Mr. Chang ein hydraulisches, von ihm selbst entworfenes Schrankbett, das tagsüber hinter einem Sofa versteckt ist. „Diese Angewohnheit, Betten auszuklappen, gleicht dem, was ich heute tue“, sagte er. „Aber die Gründe sind andere. Damals war es eine Notwendigkeit. Jetzt geht es um Verwandlung, Flexibilität und um die Erweiterung des Raums.“ Mr. Changs Experimente flexibler Wohnungsgestaltung begann 1988, als seine Familie mit seinen Grosseltern und Onkeln in eine grössere Wohnung einige Blöcke entfernt zog. Er arbeitete damals für P&T, eine Architekturfirma, und lebte in einem gemieteten Raum in der Nähe der Universität von Hongkong, wo er Architektur studierte. Seine Mutter schlug ihm vor, den Mietvertrag für ihre vorherige Wohnung zu übernehmen, „denn die Miete war ungewöhnlich niedrig”, sagte er. Er kaufte sie für ungefähr 45.000 Dollar.
Seit seiner Jugendzeit hatte es ihn gereizt, die Wände abzureissen, da er bereits damals neue Grundrisse für sein Zuhause entwarf. Dann wurde es Ernst. In den beiden letzten Jahrzehnten hat er viermal renoviert, jedes Mal mit einem grösseren Budget, da sich sein Unternehmen Edge Design Institute gut entwickelte. Seine letzte Aktion, die ein Jahr dauerte und über 218.000 Dollar kostete, nennt er „Heim-Transformer“. Die Anspielung an Spielzeugroboter scheint passend, da das Farbschema Science-Fiction-Charakter hat – überwiegend schwarz und silbern, durchflutet von gespenstisch-gelbem Licht.

Eine Paneele verbirgt diese Nische, die TV-Wand ist beweglich und gibt den Blick frei auf die Küche.

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Eine Paneele verbirgt diese Nische, die TV-Wand ist beweglich und gibt den Blick frei auf die Küche.

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Aber wenn die Wohnung ein Spielraum ist, dann ist sie es für einen Erwachsenen, der die Freuden des Luxus geniesst: Hinter einer beweglichen Regalwand befindet sich eine extragrosse Duravit Badewanne. Eine gläserne Duschkabine vergrössert sich zu einem Dampfraum mit Farbtherapie und Massageraum. Die Toilette hat einen geheizten Sitz, ein ferngesteuertes Bidet und Klänge entströmen aus einer Stereoanlage mit sechs Lautsprechern.
Bewegen von Abtrennungen und Öffnen von Schranktüren geben den Blick frei auf sorgfältig ausgewählte Objekte: Geschirr von Alessi und Bestecke von Arne Jacobsen, was Mr. Chang als einen „Altar von Muji-Zubehör” bezeichnet, zu dem Flaschen, geschmackvoll verpackte Tücher und mehrere Tausend CDs gehören. Mr. Chang, ein Technikliebhaber, der seine Wohnung während seiner Abwesenheit per Webcam überwacht, weigert sich, auf MP3 umzustellen, denn er liebt CD-Boxen und deren Cover.

Mr. Chang benutzt ein hydraulisches, von ihm selbst entworfenes Schrankbett, das tagsüber hinter einem Sofa versteckt ist.

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Mr. Chang benutzt ein hydraulisches, von ihm selbst entworfenes Schrankbett, das tagsüber hinter einem Sofa versteckt ist.

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The need for space to accommodate these collections was what drove his latest renovation. In 1998, as part of his third renovation, which he called “Flexible Curtains,” Mr. Chang had remade the apartment as a single open room, in pale hues, with shelves concealed behind curtains. But his collections had grown too large to be contained by the shelving, and piles of objects had begun to colonize the glossy white-painted floor. It is a familiar predicament in Hong Kong, one explored in “Domestica Invisible,” a 2006 exhibition at the city’s Goethe-Institut of Leung Chi-Wo’s photographs of clutter in cramped apartments. A curator described the condition as “a fundamental aspect of the city’s spirit,” and wrote, “there is no longer the capacity to enjoy open space, nor the room for imagining alternative lives.”

Hinter einer beweglichen Regalwand befindet sich eine extragrosse Duravit-Badewanne. / Grundriss des Essbereichs.

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Hinter einer beweglichen Regalwand befindet sich eine extragrosse Duravit-Badewanne. / Grundriss des Essbereichs.

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Mr. Chang hofft, dass einige der Innovationen seines Zuhauses übernommen werden können, um zu helfen, das häusliche Leben in Hongkong, das in den letzten Jahren problematisch geworden ist, zu verbessern. Die Bevölkerung ist in den letzten zehn Jahren um fast eine halbe Million gewachsen. Zwischen 2003 und 2007 haben sich Berichte über neue Fälle von Missbrauch von Kindern und häuslicher Gewalt fast verdoppelt. Sozialarbeiter schreiben dies teilweise dem neuen sozialen Druck zu, der durch die ständige Raumknappheit in der Grossstadt entsteht. „Es ist ein grosses Problem”, sagte Mr. Chang, „und es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen sich gegenseitig umbringen.Menschen fühlen sich wie in einer Falle. Wir müssen Wege finden, wie wir auf sehr engem Raum zusammenleben.”

Grundrisse der Küche und des Badezimmers.

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Grundrisse der Küche und des Badezimmers.

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Man kann sich vorstellen, dass drei, möglicherweise vier Menschen hier leben und Mr. Changs Doppelbett und das Gästebett, das über der Badewanne schwebt, benutzen. Sechs oder sieben Personen wäre jedoch eine andere Situation. Akustisches Privatleben ist begrenzt. Wenn Mr. Chang Gäste bewirtet, muss jeder, der das Telefon benutzen möchte, dies in der Dusche tun, die auch als „Telefonzelle“ bezeichnet wird. Dennoch ist Mr. Chang entschlossen, seine Ideen in neuen Gebäuden zu verwirklichen. Er hat eine Reihe von Experten in seine Wohnung eingeladen und deren Geschichte in einem Buch sorgfältig dokumentiert: “Meine 32 Quadratmeter-Wohnung: Eine dreissigjährige Transformation” (MCCM Creations, 2008). Er gibt zu, dass der Kauf einer neuen Wohnung für sein Lagerungsproblem eine kostengünstigere Lösung gewesen wäre. „Aber warum sollte ich das tun?“, fragte er, als er in der Küche stand, um sich eine Nudelsuppe zu kochen. „Ich sehe meine Wohnung als ein ständiges Experiment.”