New York schwebt im siebten Himmel seit der Umgestaltung von Manhattans High Line – einem stillgelegten Streckenabschnitt eines Bahnviadukts für Güterzüge, der in eine faszinierende Park-Promenade verwandelt wurde. Doch im Projekt von James Corner Field Operations (Projektleitung), Diller Scofidio + Renfro und dem Gartengestalter Piet Oudolf ging es nicht nur darum, eine Flanierstrecke zu gestalten. Architonic hat anlässlich der diesjährigen ICFF mit den Initiatoren der Umnutzung der High Line gesprochen und zeigt im Folgenden auf, warum die High Line einen katalytischen Effekt auf die architektonische Entwicklung ihrer Umgebung hat.

In New Yorks Meatpacking District und im angrenzenden West Chelsea bekam der Alltag eine neue Perspektive: Während man zum nächsten Termin oder Fitnessstudio eilt, streift der Blick plötzlich an weit über dem Boden wandelnden Gestalten vorbei.
Auch viele Besucher der International Contemporary Furniture Fair, die im Mai im Jacob Javits Convention Center statt fand, kamen in den Genuss eines neuen räumlichen Erlebnisses: Unter der High Line fanden die Showrooms-Parties und Nebenveranstaltungen der Meatpacking District Initiative und ABE NYC statt, und im High Line Park erschloss sich den Besuchern das Quartier nun auch von oben.

New York's High Line, mit dem Standard, New York im Hintergrund; Foto Iwan Baan © 2009

Von der Industriebrache zur Oase: New Yorks neue High Line | Aktuelles

New York's High Line, mit dem Standard, New York im Hintergrund; Foto Iwan Baan © 2009

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Die Umgestaltung der High Line zog eine Reihe an weiteren Höhenflügen nach sich. Um die Transformation dieser ehemaligen Zuliefer-Schneise für Industriegüter in ein landschaftsarchitektonisches Meisterstück möglich zu machen, wurde die Zonenordnung überarbeitet. Viele Architekten ergriffen die Chance und es entstanden ambitionierte neue Projekte in der Umgebung. Sofort zogen renommierte Kunst- und Design-Gallerien nach, welche die Einzigartigkeit des Ortes als neuen „Place to be“ erkannten.

High Lines 10th Avenue Square; Foto Iwan Baan © 2009

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High Lines 10th Avenue Square; Foto Iwan Baan © 2009

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In jüngster Zeit wurden kritische Stimmen laut, die sich darüber beschwerten, dass die Skyline New Yorks – trotz der omnipräsenten Stararchitekten und trotz des Baubooms – seit Jahrzehnten eingeschlafen zu sein scheint. Selbst wenn diese Anklage nicht ganz falsch ist, beweisen die High Line und die Entwicklungen in ihrer unmittelbaren Umgebung doch das Gegenteil.
Im Folgenden haben wir Architekten und Initiatoren befragt, die in die Umgestaltung involviert waren, was ihre persönlichen High-Lights der neuen High Line sind.

High Lines 10th Avenue Square; Foto Iwan Baan © 2009

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High Lines 10th Avenue Square; Foto Iwan Baan © 2009

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Der Mitbegründer des Architekturbüros Della Valle Bernheimer, Andy Bernheimer, meint dazu: „Auf jeden Fall war – und ist! – die High Line ein grossartiger Generator. Sie ermöglichte die Umsetzung eines neuen Zonenplanes, der es uns wiederum möglich machte, neue Projekte zu entwickeln. Sie stellt für New York einen herausragenden neuen öffentlichen Raum dar.“
Das in Brooklyn ansässige Büro entwarf den Wohnblock 459 West Eighteenth, dessen Volumina wie ein dreidimensionales Puzzle wirken. Aus Della Valle Bernheimers Feder stammt auch das Hochhaus 245 Tenth Avenue, dessen Form auf den Verlauf der Highline antwortet. Die Fassadenmaterialien, diamantförmig gestanzte Lochbleche und Glas, verleihen dem Gebäude ein schimmerndes Aussehen.

Wohnhochhaus Four Five Nine West Eighteenth, gestaltet von Della Valle Bernheimer; Foto Della Valle Bernheimer

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Wohnhochhaus Four Five Nine West Eighteenth, gestaltet von Della Valle Bernheimer; Foto Della Valle Bernheimer

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Bernheimer erinnert sich: „Das erste Mal, als ich auf dieser erhöhten Ebene der High Line auf die Stadt blickte, werde ich nie vergessen. Faszinierende Gebäude und Landschaftsarchitektur gepaart mit schlauer und integrativer Stadtplanung – eine grossartige Kombination.“

Bernheimer verweist auch auf die 100 11th Avenue, den gerade fertiggestellten Turm von Jean Nouvel, dessen komplexes und vielschichtiges Fenstergefüge der Fassade einen kaleidoskopartigen Charakter verleiht. Die Rückseite des Gebäudes ist sehr viel schlichter, mit Rücksicht auf das Frauengefängnis und die Nachbargebäude im Generellen.
„Ich liebe den theatralischen Zug und die Kakophonie der Fassade, ebenso wie sich das Gebäude zum Fluss und dem West Side Highway verhält und den „brandneuen“ Charakter des Quartiers zelebriert“, kommentiert Bernheimer die facettierte Glashülle. „Vermutlich ist der Entwurf nicht ganz zeitlos, doch wird das Gebäude ein Zeitzeuge der Ära der wirtschaftlichen „Auf und Abs“ bleiben. Als Beitrag zu einer selbstbewussten und modernen Architektur finde ich es wirklich gut."

Das Standard, New York von Todd Schliemann/Polshek Partnership Architects, steht über der ehemaligen Güterzugtrasse; © Jeff Goldberg/ESTO für Polshek Partnership Architects

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Das Standard, New York von Todd Schliemann/Polshek Partnership Architects, steht über der ehemaligen Güterzugtrasse; © Jeff Goldberg/ESTO für Polshek Partnership Architects

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Todd Schliemann, Partner bei Polshek Partnership Architects, lobt die High Line aus ähnlichen Gründen wie Andy Bernheimer: „Wir hätten das Standard Hotel nicht so geplant, wie es ist, wenn die High Line nicht gewesen wäre – sie und das Standard sind untrennbar miteinander verbunden, und es ist schwer, sich das Süd-Ende des High Line Parks ohne das Standard vorzustellen und umgekehrt.“
Schliemanns Entwurf ist in der Tat bemerkenswert auf die High Line abgestimmt – die Betonpfeiler seines Fundaments spreizen sich über die einstmalige Güterzugtrasse. Das Gebäude steht abgewinkelt da, um seine freigelegte, kräftige Sockel-Konstruktion zu zeigen und der rauen Vergangenheit des Viertels die Stirn zu bieten.
Auch die Retro-Ästhetik des Gebäudes ist eine Geste hinsichtlich der Geschichte des Ortes. Auch wenn das Gebäude wirkt, als ob es schon immer da stand, ist die Konstruktion sehr modern: Eine vorgehängte, schimmernde Glasfassade umhüllt die Zimmer und die Stahlbeton-Tischkonstruktion mit ihren exponierten Treppen macht einen athletischen, statisch ambitionierten Spagat über die High-Line.

Über und unter den Gleisen: New Yorker treffen sich unter der alten Eisenbahnstrecke im Biergarten des neuen Standards, New York; Foto Architonic

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Über und unter den Gleisen: New Yorker treffen sich unter der alten Eisenbahnstrecke im Biergarten des neuen Standards, New York; Foto Architonic

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An der Ecke der 10th Avenue und 14th Street dockt eine moderne Stahl-Glas-Konstruktion unmittelbar an die High Line an: Sie beherbergt eine Autowaschanlage, ein weiterer Favorit Todd Schliemanns: „Dies ist ein Ort, an dem eine Menge passiert – und endlich hat es einmal nichts mit Shopping, Essen oder Trinken zu tun, wie so viele andere Orte in diesem Quartier. Durch seine Funktion ist die Autowaschanlage eine Hommage an das, was früher im Meatpacking-District passiert ist: Gewerbe und geschäftiges Treiben."

Die Lobby des Standard Hotels; Foto Nikolas Koenig

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Die Lobby des Standard Hotels; Foto Nikolas Koenig

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Schliemanns Begeisterung für die ursprüngliche Vergangenheit entspricht auch Cary Tamarkins Beitrag: „Ich bin sicherlich kein Anhänger geschichtlicher Imitationen,“ sagt Tamarkin. Doch im gleichen Zug räumt er ein, dass seine Gebäude - die meisten davon Wohnbauten in Chelsea – einen historischen Touch haben.
Entwürfe wie 456 West 19th Street könnten als sehr geradlinig und doch ehrlich beschrieben werden. Sie entstanden aus „einem Glauben an die Reinheit des Gedankens und der Klarheit der Formen der frühen Moderne, sowie der Erkenntnis, zu was dieses Vokabular führen kann.“
Alle Projekte sind gleichermassen authentisch ausgeführt, aus handgeschichteten Ziegeln und mehrfach-verglasten Stahlfenstern. Der Vergleich des Betrachters mit dem Starret-Lehigh Gebäude nimmt er „als Kompliment“, sagt er. „Nun habe ich sogar das Glück, einen Steinwurf davon entfernt zu sein.“

456 West 19th Street von Cary Tamarkin, Interieur eines Duplex Apartments mit Blick auf die High Line; courtesy Tamarkin Co.

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456 West 19th Street von Cary Tamarkin, Interieur eines Duplex Apartments mit Blick auf die High Line; courtesy Tamarkin Co.

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Tamarkins Kommentare über sein eigenes Werk reflektieren sich in seiner Auswahl an „High Line - Highlights“:
Durch die Formulierung seines Lobes an der Begrünung der High Line schimmert der Respekt vor der Geschichte hindurch: „Die Bepflanzung spiegelt den Wildwuchs des Unkrauts wider, das früher hier vorherrschte.“ Weiterhin findet er, dass Shigeru Bans „Metal Shutter Houses“ – Gebäude, die ihre Transparenz durch den Öffnungsgrad ihrer Metall-Rolläden verändern können – „konzeptuelle Klarheit demonstrieren – eine Eigenschaft, die Ban meisterlich beherrscht.“

Die High Line aus der Vogelperspektive; Foto Architonic

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Die High Line aus der Vogelperspektive; Foto Architonic

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“Das Schönste an der High Line ist ihre Unanständigkeit,“ kommentiert Charles Renfro von Diller Scofidio + Renfro die Komplimente. „Sie befindet sich an Orten, an denen sie nicht sein sollte: die High Line geht mitten durch Gebäude und schubst gegen Apartments. Jetzt wird es nicht mehr möglich sein, den Raum um die High Line herum zu verletzten – keine neuen Tunnel oder Laderampen werden mehr gebaut – und eine unserer Hauptsorgen ist, dass die High Line zu heilig wird und ihre aggressive Beziehung zu den umgebenden Gebäuden verliert.

Nördliche Ausläufer der High Line; Foto Iwan Baan © 2009

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Nördliche Ausläufer der High Line; Foto Iwan Baan © 2009

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„Dennoch gibt es ein Projekt, das mir Hoffnung gibt“, fährt er fort. „HL23 von Neil Denari schaut so schelmisch wie ein Kind, das etwas ausgefressen hat, über die High Line – es ist das einzige neue Projekt, das in den Luftraum über dem Park hereinragt, ein Ergebnis von Verhandlungen mit der High Line und der Stadt. Darüber hinaus ist es wundervoll proportioniert und HL23 zieht mehr Aufmerksamkeit auf sich, als jedes andere neu erstellte Gebäude in New York der letzten 10 Jahre.“

Detail der High Line, die alten Gleise; Foto Architonic

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Detail der High Line, die alten Gleise; Foto Architonic

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Renfros Stellungnahme ist bezeichnend. Er übt würdevolle Zurückhaltung, indem er den subversiven Qualitäten der historischen High Line mehr Bedeutung beimisst als seiner modernen Umgestaltung. Als Aussenstehender bekommt man den Eindruck, dass New York seit dem Ende der Industrialisierung wohl kaum mehr durch dramatische Interventionen bewegt wurde.

Der Abschluss der High Line; Foto Architonic

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Der Abschluss der High Line; Foto Architonic

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Doch ein Artefakt einer innovativen Vergangenheit kann zumindest ortsspezifische Eingriffe forcieren, wie durch das Zusammenspiel des Gebäudes HL23 mit der Trasse bewiesen wird, und besitzt genügend Einfluss, um stillgelegten Infrastrukturen an anderen Orten zu einer Wiederbelebung zu verhelfen.
Die Stadtverwaltung von Washington DC publizierte vor kurzem eine öffentliche Ausschreibung, um die stillgelegten Strassenbahntunnel unter dem Du Pont Circle zu reaktivieren, und viele andere Konversionen ehemaliger am Kanal gelegener Industrie sind im Gange. Die Lektion, die uns die Transformation der High Line erteilt, ist dass die Neuerfindung eines noch so kleinen oder überflüssig erscheinenden Quartiers meist dann statt findet, wenn moderne Planer um einen Dialog mit den Reliquien der Vergangenheit bemüht sind.