In den letzten Jahren versuchten mehrere Möbel-Designern zu definieren, wie man Privatheit in der Form von Möbeln ausdrückt. Was inspirierte sie? Ist es die Beobachtung, dass wir alle zu Eigenbrötlern werden?

Vielleicht ist der Ursprung dieser Ansätze in der Zeit, in der wir leben, zu suchen. Börsencrash. Globale Erwärmung. Elektrosmog. Könnte es sein, dass wir dem gesellschaftlichen Miteinander ein zurückgezogenes Dasein vorziehen? Von der Beobachtung ausgehend, dass es zunehmend Entwurfsansätze im Design gibt, sich von seiner Umwelt abzukapseln, könnte man dann daraus folgern, dass wir vielleicht einfach nur ganz und gar unsere Ruhe haben wollen? Denn alles um uns herum ist ja irgendwie ein wenig hektisch geworden.

'Wingback Chair', Tom Dixon for George Smith, 2008

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'Wingback Chair', Tom Dixon for George Smith, 2008

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Das Konzept des Privaten ist eine relativ neuzeitliche Idee. Im Allgemeinen kam der architektonische Diskurs über Privatsphäre im 17. Jahrhundert auf. Um es mit den Worten des deutschen Philosophen Jürgen Habermas zu sagen, 'spiegelt sich die Privatisierung des Lebens in der Veränderung der Architektur wider'. Diener wurden z.B. von ihren Herren räumlich getrennt. Dies schuf neue Architekturformen wie Hintertreppen oder Dienstboten-Eingänge. Ihr Zweck war es, dem Hausherrn einer Privatheit zu schaffen, in der er seine Räumlichkeiten nicht mehr teilen musste.

Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel. Der von Sonnenkönig Louis XIV in Auftrag gegebene Versailler Palast war zugänglich für die Öffentlichkeit. Die übermenschliche, fast göttliche Macht des französischen Monarchen sollte durch spektakuläre Architektur, Reichtum und Prunk manifestiert wurden und erforderte es, durch Normalsterbliche visuell verifiziert zu werden.

Der gute alte Ohrensessel, der in letzter Zeit sein Comeback feiert, birgt von Natur aus eine gewisse Privatsphäre in sich. In letzter Zeit begannen Designer, diesen Sesseltyp neu zu interpretieren. Der Ohrensessel zeichnet sich durch zwei seitliche Flügel auf Kopfhöhe aus, die aus den Armlehen herauswachsen und sich in einem Winkel von 90 Grad oder mehr mit der Rückenlehne verbinden. Der ursprüngliche Zweck der Ohren war es, den Oberkörper des Landhausbewohners vor Zug zu schützen, sowie Gesicht & Teint der Damen vor dem lodernden Feuerschein abzuschirmen. Darüberhinaus bieten die Ohren dem Sitzenden ein gewisses Mass an Privatsphäre.

'PARCS' wing sofa, PearsonLloyd for Bene, 2009

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'PARCS' wing sofa, PearsonLloyd for Bene, 2009

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Naheliegend, dass besonders britische Möbeldesigner den Ohrensessel wieder aufs Parkett gebracht haben, denn in der Designgeschichte des Inselreiches nimmt er einen besonderen Platz ein. Sowohl 'PARCS Wing Chair' von PearsonLloyd für Bene (2009) wie auch 'Hush' von Naughtone (2009) stellen eine sehr zeitgemässe, lineare Interpretation der archetypischen Form dieses Sesseltyps dar. Die verlängerten Seitenelemente haben den Effekt von Scheuklappen, die das Blickfeld des Benutzers einschränken, und bis zu einem gewissen Grad auch sein Gesicht verdecken. In Falle von 'Hush', übersetzt 'Stille', ist der Name des Objekts Programm.

'Hush', Naughtone, 2009

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'Hush', Naughtone, 2009

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Tom Dixons wortgetreu betitelter 'Wingback Chair' (2008), von George Smith hergestellt, stellt gleichzeitig Hommage und Parodie auf das traditionelle Stilmöbel dar. Reich gepolstert und üppig geformt, nimmt er sehr direkt Bezug auf das Original. Gleichzeitig untergräbt er dessen Bedeutung durch eine übertrieben hohe Rückenlehne, welche die Proportionen des Vorbildes verschiebt. Der Sessel strahlt dadurch Behaglichkeit mit einer Portion Komik aus.

'Nest', Autobahn for De La Espada, 2009

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'Nest', Autobahn for De La Espada, 2009

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Nicht nur der gute alte Ohrensessel stand Pate für neue Entwürfe, die Privatsphäre schaffen sollen. Seyhan Ozdemir und Sefer Caglar, die das Design-Duo Autobahn bilden, haben einen Sessel entworfen, der den Sitzenden geradezu einhüllt. 2009 wurde das aus Massivholz gearbeitet Sitzmöbel mit dem programmatischen Namen 'Nest' von De La Espada auf den Markt gebracht. Durch die schmalen Zwischenräume der Streben bekommt man von hinten einen zwar vagen, aber spannenden Eindruck der Person, die sich hinter der Rückenlehne befindet. Jaime Hayons 'Showtime Hooded Chair' für Bd Barcelona (2006) ist zwar ähnlich im Ausdruck, jedoch anders materialisiert: formgegossenes Polyethylen kombiniert mit Leder geben dem Stuhl seine expressive Form. Wie bei Dixon werden traditionelle Formen parodiert - der Benutzer ist in einen überdimensionalen Sesselbaldachin eingeschlossen.

'Showtime Hooded Chair', Jaime Hayon for Bd Barcelona, 2006

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'Showtime Hooded Chair', Jaime Hayon for Bd Barcelona, 2006

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Auch Sofas wurden von der ‚Privat-Behandlung’ nicht ausgeschlossen. Robert Bronwassers 'Bricks' Sofa für Palau (2009), das Teil des modularen Bricks Systems ist, generiert durch seine hohen Rücken-und Seitenlehnen einen halbprivaten Raum für seine 'Insassen'. Ein Möbel wie Bricks fungiert als innenarchitektonisches Objekt, das einen Raum im Raum selbst bildet. Auch Ronan und Erwan Bouroullecs 'Alcove Sofa' aus dem Jahre 2006 für Vitra veranschaulicht diese Idee recht deutlich. Wiederum konnotiert man mit dem Namen des Objekts Zurückgezogenheit und Schutz und wiederum wird der Sitzende visuell abgeschirmt, besonders wenn zwei Sofas gegenüberliegend positioniert werden. Hier ergibt sich eine spezifische Funktion im Büromöbelbereich, denn abgesehen von der visuellen Abgrenzung bilden diese 'Raum-im-Raum' Konstellationen auch akustische Abschirmung.

'Bricks' sofa, Robert Bronwasser for Palau, 2009

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'Bricks' sofa, Robert Bronwasser for Palau, 2009

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'Alcove Sofa', Ronan and Erwan Bouroullec for Vitra, 2006

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'Alcove Sofa', Ronan and Erwan Bouroullec for Vitra, 2006

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Das 'Duo Sofa' (2009) von Norway Says, Andreas Engesvik and Hallgeir Homstvedt, von LK Hjelle produziert, sieht auf den ersten Blick wie ein, sozusagen, gewöhnliches Sofa aus. Die Seiten- und Rückenlehen können mittels eines Reissverschlusses ausgeklappt werden. Dadurch entsteht eine doppelt so hohe Lehne, die den Sitzenden einhüllt. Sehen oder nicht gesehen werden - das bestimmt man selbst.

'Duo Sofa', Norway Says, Andreas Engesvik and Hallgeir Homstvedt for LK Hjelle, 2009

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'Duo Sofa', Norway Says, Andreas Engesvik and Hallgeir Homstvedt for LK Hjelle, 2009

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Nicht nur Sitzmöbel eignen sich zur Generierung von Privatbereichen. Die Bouroullec Geschwister untersuchten schon freistehende abgeschlossene Räume innerhalb eines Raumes im Jahr 2000 – Das Ergebnis des Experiments war eine Art Schlafbox namens 'Lit Clos'. Die Grösse des Raum-Möbels liegt irgendwo zwischen Schlafzimmer und Bett und wird damit zu einem architektonischen Objekt im Raum. Das Designer-Duo GamFratesi, das seinen Sitz in Copenhagen hat, entwarf einen Tisch der die Sehnsucht nach Rückzug von der Aussenwelt ausdrückt. Mit einer fast rudimentären Formensprache, an Steinzeithöhlen erinnernd, spannt sich ein baldachinartiges Textil-Dach über den Tisch, das dem Grossraumbüro ein lange Nase macht. Der Vorteil der akustischen Abschirmung liegt auf der Hand- ob die Arbeitshöhle der Konzentration förderlich ist, steht jedoch zur Diskussion.

'Lit Clos', Ronan and Erwan Bouroullec, 2000; copyright Morgane Le Gall

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'Lit Clos', Ronan and Erwan Bouroullec, 2000; copyright Morgane Le Gall

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Natürlich gibt es auch noch etwas für die extremeren Formen des Rückzugs, wenn alles einfach zuviel wird. Das 'Tent Sofa', von Philippe Malouin in Mailand 2009 präsentiert, ist, wie der Name impliziert, eine 2-in-1-Produkt. In diesem Fall können die Lehnen nicht nur senkrecht hochgeklappt werden, sondern sogar auch zu einem Giebel gefaltet werden – der Sessel erhält dadurch einen Zeltdach. Die Tarnfarbe des Bezugs unterstreicht die Camping-Ästhetik des Polstermöbels und beschert uns Lagerfeuerromantik - mitten im Wohnzimmer.

'Tent Sofa', Philippe Malouin for Campeggi, 2009

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'Tent Sofa', Philippe Malouin for Campeggi, 2009

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Stefan Borselius entwarf ein Objekt für die Eremiten unter uns. Der 'Peekaboo' chair für Blå Station (2005) ist die futuristische Variante seines 'Uropa-Ohrensessels': Er besitzt die Optik eines Virtual-Reality-Headsets, hinter dem das Gesicht verschwindet. Eine eingebaute Maske ist mit Sicherheit der stilvollste und ausdrücklichste Weg um zu demonstrieren, dass man sich nach Einsamkeit sehnt – man sollte sich jedoch auf soziale Isolation gefasst machen.

'Peekaboo', Stefan Borselius for Blå Station, 2005

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'Peekaboo', Stefan Borselius for Blå Station, 2005

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